Vladimir Nevezin:
Stalins Reden auf den Empfängen im Kreml und im Führungszirkel
Rezensiert von Wladislaw Hedeler
Als Mitarbeiter des Instituts für russländische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften ist Vladimir Aleksandrovic Nevezin (geb. 1954) vor allem mit Publikationen über den Platz der Sowjetunion in der Anti-HitlerKoalition hervorgetreten. 2003 gab er „Stalins Tischreden“ heraus, 2007 folgte „Stalin über den Krieg“. 2011 lag das Ergebnis seiner jahrelang durchgeführten Studien, eine fundierte, sämtliche russischsprachigen Quellen über die von Stalin veranstalteten Empfänge auswertende Untersuchung, vor. Die zweite, um ein Vorwort des Herausgebers und Generaldirektors des Moskauer Verlages AIRO-XXI Andrej Glebovic Makarov erweiterte (textidentische) Auflage dieses Bandes erschien 2019. Kurz darauf, 2019 und 2020, folgten die Bände 2 und 3, in denen die als „Symposien“ bezeichneten Treffen von Stalin im kleineren Kreis sowie die für Ausländer und Diplomaten organisierten Empfänge analysiert werden.
Die Studie, so leitete die an der Moskauer Lomonossov-Universität lehrende Historikerin Larissa Vladislavnovna Zigal'cova (2020: 280) ihre Rezension ein, ist die bis auf den heutigen Tag gründlichste archivgestützte Untersuchung des in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion von den 1920er bis in die 1950er Jahre herrschenden Regimes persönlicher Macht und der ihm eigenen Mobilisierungsfunktion. Leider sind die Bände in sehr geringer Auflage erschienen und in der Bundesrepublik Deutschland kaum über Fachkreise hinaus bekannt.
Gegenstand des ersten Bandes sind die 47 von 1935 bis 1949 im Kreml veranstalteten Empfänge, an denen nachweislich 750 Personen teilnahmen. Zum Vergleich: Von Mai 1935 bis
Mai 1941 fanden lediglich 14 Großveranstaltungen der KPdSU(B) statt: 12 Plenartagungen des Zentralkomitees, ein Parteitag sowie eine Parteikonferenz (1: 382). Schon das deutet auf den Stellenwert der Empfänge hin. In fünf Kapiteln werden diese Veranstaltungen sowohl als eine spezifische verbale als auch nonverbale Kommunikations- und Interaktionsform Stalins und der sowjetischen Elite, seiner „Mannschaft“ (Vorwort des Herausgebers zur 2. Auflage), mit dem Volk untersucht.
Nevezin interessiert sich für Stalins Führungsstil, beleuchtet dessen Launen und Gewohnheiten sowie die Abhängigkeit der „Mannschaft“ von ihrem Kapitän (1: 129). Die gesamte Regie der Inszenierungen war auf Stalin ausgerichtet, die Überwachung durch das NKVD (von der Auswahl der Gäste über die Einlasskontrolle in den Kreml bis hin zur Observation in den Festsälen) total. Den Auserwählten wurden die Einladungen erst am Tag des Empfangs ausgehändigt. Sämtliche Aktivitäten der „Mannschaft“ waren mit Stalin abgestimmt, nichts geschah spontan oder gegen seinen Willen, er war der während der Empfänge stets im Hintergrund agierende Strippenzieher.
Nevezin stützt sich auf die in der Tagespresse veröffentlichten Artikel, Erinnerungsberichte und Memoiren der Teilnehmer an den Empfängen sowie auf in den russischen Archiven überlieferte Dokumente. Durch die Zusammenstellung sämtlicher Urlaubsaufenthalte Stalins konnte er die Chroniken der im Politbüro abgearbeiteten Tagesordnungen (2: 419) sowie die im Journal der Besucher in Stalins Kabinett im Kreml enthaltenen Namenlisten um wichtige biografische Details ergänzen. Stalins Bekanntschaft mit den zur Elite zählenden Funktionären begann oft während der Empfänge. Im Ergebnis der vorgelegten Studienbände tritt die Hierarchie innerhalb des Führungszirkels deutlicher hervor, die verborgenen Mechanismen der Funktionsweise der Machtausübung sowie die Art und Weise der Durchsetzung der von Stalin formulierten Direktiven werden aufgedeckt.
In den ersten vier Kapiteln des ersten Bandes skizziert Nevezin erstens die Quellenlage und -auswahl, zweitens die Herausbildung und Entwicklung der Tradition der Empfänge, drittens die drei Gruppen zugeordneten Teilnehmer - Mitglieder der Partei- und Staatsführung, im Unterhaltungsprogramm auftretende Künstler sowie geladene Gäste (1: 22) - und viertens Zeremonie und Etikette. Das fünfte Kapitel enthält die Analyse von drei Ansprachen Stalins während der Empfänge am 22. April 1941, 5. Mai 1941 und 24. Mai 1945. Untersucht und im Anhang des 1. Bandes publiziert werden alle zugänglichen Überlieferungen, darunter die von Zeitzeugen angefertigten Aufzeichnungen und Stenogramme sowie die für die Veröffentlichung überarbeiteten Texte. Ein ausführlicher Apparat enthält neben einer Aufstellung sämtlicher Empfänge (1: 429-432) und des Kulturprogramms (1: 385-400) die Teilnehmerlisten (1: 401-418) sowie biografische Skizzen der Geladenen (1: 449-535) und Auszüge aus den Tagebüchern des J ournalisten Lazar' KonstantinoviC Brontman (1905-1953), der als Korrespondent der „Prav- da“ an den von 1936 bis 1941 stattgefundenen Empfängen teilgenommen hatte (1: 419-428).
Vorgestellt werden elf der 32 im März 1939 gewählten ZK-Mitglieder, die regelmäßig an den Empfängen teilnahmen. Zur zweiten Gruppe der Teilnehmer gehörten die im Rahmenprogramm auftretenden Kultur- und Kunstschaffenden, zur dritten, der Teilnehmerzahl nach größten Gruppe die geladenen Gäste. In der Zeit des Großen Terrors ging aus den in der Tagespresse veröffentlichten Berichten nicht hervor, wer von ihnen neben Stalin am Tisch sitzen durfte (1: 197). D ank Nevezins Recherchen steht der Personenkreis jetzt fest.
Nach dem Beschluss des Politbüros über die Durchführung von Dekaden der Nationalkulturen in Moskau begann das Komitee für Kunstangelegenheiten mit der Organisation der Veranstaltungen im Kreml. Die für das Unterhaltungsprogramm ausgewählten Kultur- und Kunstschaffenden wurden auf ihre soziale Herkunft und auf eventuell bestehende Kontakte ins Ausland überprüft. Musiker, Sänger, Rezitatoren, Schriftsteller und Conferenciers erwähnen in ihren Erinnerungen, unter welchen Bedingungen sie spielen, singen oder tanzen mussten. „Außer den Politbüromitgliedern hört niemand zu“, erinnerte sich der Geiger Jurij Elagin. „Alle sind nur wegen des Essens gekommen. Sie speisen und schenken uns keiner
lei Aufmerksamkeit. Stimmengewirr, Teller klappern, Gläser klingen.“ (1: 304) Ihr einziger Wunsch war, glaubt man den Erinnerungen der Künstler, Stalin nicht zu enttäuschen, ihm zu gefallen. Nevezin führt Beispiele für karrierefördernde oder den Abbruch der Karriere nach sich ziehende Auftritte von Künstlern an (1: 301). Einige Gäste erinnern sich an Vorkommnisse während des Einlasses in den Kreml oder schildern kleine Pannen während des Rahmenprogramms.
Die Sitzordnung war verbindlich, die Geladenen durften ihre Plätze nicht wechseln, jede Annäherung an den Tisch der Führung war verboten. Viele der Gäste waren vom Prunk der Kreml-Säle und den angebotenen Delikatessen überwältigt. Der von allen gefeierte Stalin hielt sich im Hintergrund, nie ergriff er als erster das Wort. Die Rolle des Gastgebers und Tischmeisters (Tamada) übernahmen fast immer Kliment Vorosilov oder Vjaceslav Molotov. Nach geraumer Zeit bat Stalin um das Wort. Einige seiner Toasts und Tischreden sind im Anhang des ersten Bandes dokumentiert.
Im zweiten Band untersucht Nevezin 60 Mittag- und Abendessen im kleineren Kreis, die in Moskau, den Vororten Kuncevo bzw. Zubalovo oder während Stalins Urlaubsaufenthalten im Kaukasus bzw. auf der Krim stattfanden. Zu den bekanntesten gehören die zwei Treffen mit Schriftstellern am 20. und 26. Oktober 1932 in Maksim Gor'kijs Moskauer Villa. Stalins Reden sind in den Anhang aufgenommen. Außerdem fanden Treffen in den Wohnungen von Stalin, Vorosilov o der Molotov statt. Stalin nutzte diese „Symposien“, um in lockerer Atmosphäre anstehende Fragen zu besprechen, seine Getreuen zu kontrollieren, Informationen einzuholen und Aufgaben zu verteilen (2: 170). Wie bei den Empfängen handelt es sich nicht um ein Freizeitvergnügen, sondern um spezifische Arbeitsbeziehungen. Während die Empfänge der Verbreitung Stalinscher Direktiven im Volk dienten, griff der Generalsekretär während der „Symposien“ ihn bewegende und der Lösung harrende Probleme auf. Hier hielt er sich, im Unterschied zu den Empfängen, nicht zurück, sondern gab durchweg den Ton an.
Eine weitere Besonderheit dieser informellen Treffen ist, dass auch Ausländer daran teilnehmen durften. Dieses in diesem Band nur angedeutete Thema ist Gegenstand der Untersuchung im dritten Band. Auch hier gab es ein - wenn auch bescheidenes - „Kulturprogramm“ (2: 19). Die Rolle des Tamada durfte Anastas Mikojan, von 1934 bis 1938 Volkskommissar für Lebensmittelindustrie, übernehmen. Die Einschätzungen der Historiker und Zeitzeugen im In- und Ausland pendeln, je nach Haltung der Autoren zu Stalin (stellvertretend seien Molotov und Chruscev genannt) zwischen Arbeitsessen und Besäufnis (2: 23).
Nevezin erläutert im ersten Kapitel des zweiten Bandes die Quellenlage und -auswahl, wobei er ausführlich die (im Anhang nachzulesenden) Erinnerungen an das Treffen in Gor'kijs Villa kommentiert. Stalin, der die Schriftsteller als „Ingenieure der Seele“ bezeichnete, hatte seine Reden nicht zur Publikation freigegeben, das nach dem Schriftsteller benannte Institut für Weltliteratur keine der von den Teilnehmern verfassten Erinnerungen in der veröffentlichten „Gor'kij-Chronik“ erwähnt.
Aufschlussreich sind Nevezins Bemerkungen zum Thema „Kinderliteratur“ sowie über die „redaktionelle Bearbeitung“ der in englischer Übersetzung veröffentlichten Erinnerungen von Stalins Tochter Svetlana. Die englische Ausgabe der „20 Briefe an einen Freund“ ist im Unterschied zur Publikation in russischer Sprache voller Fehler, politisierender Wertungen und Ungereimtheiten. Anders als die den russischen Buchmarkt überschwemmenden Publikationen aus der Feder von Stalins Leibwächtern sind Svetlanas Erinnerungen in der russischen Fassung eine für Historiker wertvolle Quelle.
Ausländer wie Winston Churchill, der 1942 einer Einladung zum Abendessen in Stalins Moskauer Wohnung folgte, verzichteten in ihren Erinnerungen auf die für russische Publikationen typischen Loblieder auf Stalin. Sie beschrieben den Gastgeber und dessen Mannschaft. Die von Ausländern verfassten Berichte über Treffen mit Stalin (wie die von Milovan Djilas oder Mätyäs Räkosi) bleiben eine wichtige Quelle. Daran ändern auch politisierende Wertungen nichts, die mit Blick auf die Entstehungszeit der Erinnerungen und die politische Verortung der Autoren zu hinterfragen sind (2: 61). Besonde
rer Stellenwert kommt Romain Rollands im Sommer 1935 entstandenem „Moskauer Tagebuch“ und (in allen drei Bänden) den Tagebüchern von Georgi Dimitroff zu (2: 212).
Das zweite Kapitel enthält eine Darstellung des Kampfes der bolschewistischen Führungsriege gegen Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum sowie eine Erläuterung der an die Einführung des staatlichen Monopols auf Produktion und Vertrieb von Spirituosen geknüpften Ziele. Überliefert ist, dass Valerian Kujbysev, der Stellvertretende Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, und Michail Tomski, der Vorsitzende der Einheitsgewerkschaft, zu jenen gehörten, die gerne einen über den Durst tranken und deshalb von Stalin zur Ordnung gerufen werden mussten.
Als die Disziplinierung der Partei- und Führungskader in der Provinz auf Hochtouren lief, üppige Feiern auf Betriebskosten verboten waren, fand die Feier anlässlich des 50. Geburtstages von Stalin auf der Datscha statt. Ort und Zeit waren nur wenigen Funktionären bekannt, was zur Folge hatte, dass die damals als „Rechtsabweichler“ kritisierten Nikolaj Bucharin, Aleksej Rykov und Tomski zu spät kamen. Die Ankunft der ungebetenen Gäste wird in einigen Erinnerungsberichten erwähnt, wer jedoch außer ihnen noch zugegen war, bleibt offen (2: 96). Der eingeladene Schriftsteller Demjan Bednyj spielte mit dem Gedanken, die Platzierung der Abweichler am Katzentisch in einem Theaterstück zu verarbeiten.
In einem Abschnitt kommentiert Nevezin Stalins Haltung zu seinen Angehörigen sowie zu den selten eingeladenen Ehefrauen der Politbüromitglieder vor und nach dem Tod seiner Ehefrau Nadezda Allilueva. Über die von anderen Führungsmitgliedern organisierten Zusammenkünfte ist sehr wenig bekannt. Immer dann, wenn diese wegen kritischer oder abschätziger Äußerungen vor der Zentralen Parteikontrollkommission Stellung nehmen mussten oder vom NKVD verhaftet worden waren, ist von solchen „konspirativen Treffen“ die Rede (2: 118).
Im dritten Kapitel „Von Moskau bis Maces- ta“ geht Nevezin auf die „Topographie der Symposien“ ein. Aus den Überlieferungen geht nicht immer hervor, wo genau diese stattfanden.
Wenn (wie in Dimitroffs Aufzeichnungen) von „Treffen bei Stalin“ die Rede ist, kann es sich um die Wohnung im Kreml oder die Datscha im Moskauer Umland handeln (2: 132). Von 1920 bis 1950 standen Stalin außerdem bis zu 20 Häuser im Süden (hier verbrachte er seinen Sommerurlaub) und im Moskauer Umland (den Erinnerungen Mikojans nach feierte Stalin hier seine Geburtstage, an denen auch die Angehörigen teilnehmen durften) zur Verfügung (2: 151f.). Die Empfänge zum 60. und zum 70. Geburtstag fanden hingegen im Kreml statt (2: 168). Für informelle Begegnungen nutzte Stalin auch die Datschen von Molotov und Gor'kij.
Mit Ausnahme der Jahre 1937 bis 1944 verbrachte Stalin seinen zwei bis drei Monate währenden Jahresurlaub im Kaukasus oder in Kurorten auf der Krim, wo er auch sein Rheuma behandeln ließ. In den Nachkriegsjahren entstanden am Schwarzen Meer mehrere Residenzen, die eher Palästen als Landhäusern glichen. Die Stalins Vorlieben entsprechende Innenausstattung, die Parklandschaften und Gewächshäuser haben ausländische Besucher (z. B. Enver Hoxha) in ihren Erinnerungen detailliert beschrieben.
Neben den Jahrestagen der Oktoberrevolution und den Maiparaden war seit Ende der 1930er Jahre auch Lenins Todestag ein für die Abhaltung der „Symposien“ feststehender Termin. Ablauf und Teilnehmerzahl einiger Treffen können in Ermangelung anderer Quellen den präzisen Einträgen Dimitroffs im Tagebuch entnommen werden.
Am Ende des vierten Kapitels findet sich eine Aufstellung von Stalins Lieblingsspeisen und Weinen. Mit zunehmendem Alter wuchs seine Angst, vergiftet zu werden. Mikojan und der Geheimdienstchef Lavrentij Berija erinnern sich, dass sie die zu den Treffen gelieferten Weine im Beisein Stalins verkosten mussten. Die Prüfung der gereichten Speisen oblag Ni- kita Chruscev. Erst danach wählte Stalin den Wein, die Vorsuppe und das Hauptgericht aus (2: 259). Nur mit großer Mühe gelang es Miko- jan, Stalin davon abzubringen, die Produktion von trockenem Krimsekt zu verbieten. Stalin bevorzugte natursüße oder liebliche Sorten. In einigen, von Nevezin referierten Erinnerungsberichten ist davon die Rede, dass Stalin seine Gäste mit Absicht zum Trinken verleitete, um ihnen „die Zunge zu lösen“ und auf diese Weise ihre verborgenen Gedanken zu erfahren (2: 276). Hinweise der Gäste auf ihre Abstinenz oder den Gesundheitszustand duldete er nur in Ausnahmefällen (2: 282). Er reagierte darauf voller Ironie oder Sarkasmus, worauf vor allem Chruscev und Berija in ihren Erinnerungen verweisen. Der in den letzten Lebensjahren erfolgte Bruch Stalins mit einstigen Gefolgsleuten bedeutete auch den Abbruch der Beziehungen bei Tisch. Molotov und Mikojan sind die diesbezüglich bekanntesten Vertreter aus Stalins Führungsriege (2: 323).
Wie es um die „ungezwungene Atmosphäre“ während der Symposien stand, wird im fünften Kapitel „Der Diskurs zu Tisch. Sujets und Porträts“ untersucht. Diskutiert wird u. a., ob ein Vergleich der Reden von Hitler (17.3.1938), Stalin (17.5.1938) und Mussolini (10.6.1940) (2: 352f.) verallgemeinernde Aussagen über den „totalitären Diskurs“ ermöglicht. Dem Inhalt und Charakter der Reden und dem Auditorium nach ist das Nevezin zufolge nicht möglich. Dies trifft seiner Meinung nach auch auf den wenig ergiebigen Vergleich von Stalins Tischreden und Hitlers Monologen im Hauptquartier des Oberkommandos der Wehrmacht zu (2: 353; 3: 25).
Mit zunehmendem Alter schmückte Stalin seine - wenn auch seltenen - Erzählungen über sein Leben als Berufsrevolutionär, seine Verbannungen und Fluchten, mit immer neuen - oft frei erfundenen - Details aus. Was die Selbstdarstellung als Generalsekretär anbelangt, hob er seine herausragenden Leistungen als Praktiker hervor. Das musste er, da sich andere aus der alten Garde als Theoretiker hervorgetan hatten und weitaus bekannter waren als er. Auch deshalb bezeichnete er sich als bescheidenen Schüler Lenins. Nachdem es ihm gelungen war, seine Opponenten aus dem politischen Leben des Landes zu verdrängen, in Schauprozessen zu verurteilen oder zu ermorden, änderte sich die Darstellung seines Verhältnisses zu Lenin.
Während des Treffens mit Schriftstellern in Gor'kijs Villa bat der Hausherr Stalin, er möge ihnen etwas über Lenin erzählen. Der neben Stalin sitzende, später in Ungnade gefallene Bucharin fasste diesen an der Nase, und sagte:
„Nun lüg' uns irgendetwas über Lenin vor“ (2: 374). Gor'kij war beleidigt, Stalin konnte die Bitte nicht abschlagen. Um die Situation zu retten, erzählte er von der Bitte des todkranken Lenin, ihn zu erlösen. Mitte der 1930er Jahre wurde der Hinweis auf Lenin in den Reden des Generalsekretärs durch den Verweis auf die eigene Rolle verdrängt. Stalin musste nicht mehr betonen, Lenins Schüler zu sein. Er war - die Propaganda brachte es auf den Punkt - der Lenin von heute (2: 378). Dimitroff hat in den „Tagebüchern“ auf diesen Umstand hingewiesen (2: 381). Die entscheidende Zäsur ist der 1937 gefeierte 20. Jahrestag der Oktoberrevolution. Der Stalin-Preis verdrängte den Lenin-Preis auf Platz zwei.
Mit seinen während der Empfänge im Kreml gehaltenen Reden wollte Stalin nicht den „Generalstab“ der Partei, sondern deren Funktionäre (das Unteroffizierkorps der Partei) erreichen. Seine Vorstellung von der Dreiteilung der Partei - einfache Mitglieder und Kandidaten, Funktionärskader und Führung - hatte er auf dem Februar-März-Plenum 1937 ausgeführt. An die Generalität musste er sich nicht wenden, denn der Treue seiner Gefolgsleute, seiner „Mannschaft“, war er sich sicher. Es waren die Kader des Mittelbaus, die seinen Aufstieg im Apparat ermöglicht hatten.
Molotov, der es meisterhaft beherrschte, seinem Herrn nach dem Munde zu reden, wies einmal auf einen Vorzug Stalins gegenüber Lenin hin: Anders als Lenin, der viele Jahre in der Emigration verbrachte, war Stalin nie von seinem Volk getrennt (2: 380). Stalin seinerseits betonte in seinen Reden gerne die Rolle der Volksmassen. Die Führer kommen und gehen, das Volk aber bleibt, lautete der Grundgedanke zweier Ansprachen Stalins vom 29. Oktober und 7. November 1937. Nach Kriegsende wandelte er diesen mit Blick auf Deutschland wie folgt ab: Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk aber bleibt (2: 407f.).
Begleiterscheinungen der Modernisierung des Landes waren Probleme und Rückschläge in der Wirtschafts-, Militär- und Sozialpolitik. Stalin setzte alles daran, die Verantwortung auf seine Gefolgschaft abzuwälzen. In einigen Reden kam er auf die in den drei Moskauer Schauprozessen 1936 bis 1938 verurteilten Angeklag
ten zu sprechen. Ihr „Verbrechen“ bestand seiner Meinung in erster Linie darin, die Sowjetunion zu destabilisieren, zu zerschlagen und unter den kapitalistischen Staaten aufteilen zu wollen.
Nevezin greift in den ersten zwei Bänden fast ausschließlich auf russischsprachige Publikationen zurück. Einige ins Russische übersetzte - in der Reihe „Geschichte des Stalinismus“ des Moskauer Verlages Rosspen erschienene - Bücher amerikanischer (Robert Charles Tu- cker), englischer (Simon Sebag Montefiore) und deutscher Autoren (Malte Rolf, Karl Schlögel) werden ebenfalls herangezogen. Andere, im Westen zu dem von ihm untersuchten Thema erschienene Bücher, z. B. die von Boris Schu- matsky über seinen Urgroßvater Boris Zacharovic Sumjacki - er leitete die Filmproduktion in der UdSSR und war ständig bei den Vorführungen neuer Filme im Kreml und auf den Datschen dabei - oder Christina Ezrahis „Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia“ werden nicht erwähnt. In allen drei Bänden finden sich kritische Anmerkungen zu Monte- fiores Abhandlung „Am Hofe des Zaren“.
Im zweiten Band ist bereits davon die Rede, dass Stalin es vorzog, sich anlässlich der 20-Jahr- Feier der Oktoberrevolution vor seinen Funktionsträgern im Kreml zu zeigen. Zum Empfang für das diplomatische Corps im Gästehaus des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten wurden lediglich zwei Stellvertretende Volkskommissare abgestellt (2: 199). Im dritten Band werden die von 1920 bis 1945 stattgefundenen Empfänge von Diplomaten und Ausländern (an denen ca. 1300 Personen teilnahmen) untersucht, wobei der Schwerpunkt auf den 14 offiziellen Treffen liegt, die in den Kriegsjahren 1941 bis 1945 stattfanden (3: 31).
Im Mai 1941 löste Stalin Molotov als Regierungschef ab. Vor dem Hintergrund der Herausbildung der Anti-Hitler-Koalition fragt Nevezin nach Stalins Sicht auf die Verbündeten und wirft die Frage nach dessen Haltung „gegenüber dem Fremden“ auf (3: 19). Die diplomatischen Empfänge beschreibt der Historiker als „interkulturelle Kommunikation“, wobei er gegen das Klischee „des asiatischen Despoten auf dem Thron“ polemisiert (3: 18). Er konnte u. a. auf Dokumente zurückgreifen, die das Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation zum Thema „Die UdSSR und die Verbündeten. Dokumente des Archivs des Außenministeriums Russlands zur Außenpolitik und Diplomatie der führenden Mächte der Anti-Hitler-Koalition“ (URL: agk.mid.ru) freigegeben hatte. Bei der Arbeit am dritten Band nutzte Nevezin die reichhaltige Literatur zum Thema in englischer und französischer Sprache.
Im ersten Kapitel des dritten Bandes gibt Nevezin einen Überblick über die Festlegungen für die Einhaltung des diplomatischen Protokolls in Moskau. Von Anfang bis Ende der 1930er Jahre stieg die Zahl der Botschaften von 20 auf 33. Das von Maksim Litvinov bzw. Molotov geleitete Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten musste gegenüber den Gesandten immer wieder auf die für Sowjetangestellte verbindlichen Arbeitszeitregelungen und Verpflichtungen gegenüber der Parteiorganisation verweisen. Für die Teilnahme am diplomatischen Leben hatten die sowjetischen Funktionsträger schlichtweg keine Zeit. In diplomatischen Kreisen war u. a. bekannt, dass Litvinov Einladungen zu Empfängen in den Botschaften nicht nachkam. Als Parteichef nahm Stalin nicht an den für die Außenminister organisierten Empfängen teil. Nevezin kommentiert die z. T. neidvollen Reaktionen der Diplomaten auf die ausländischen Intellektuellen gewährten Audienzen bei Stalin.
Aus Anlass des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution 1937 wurden etliche Großveranstaltungen organisiert, darunter eine Militärparade auf dem Roten Platz. Die Diplomaten konnten diese von der Gästetribüne neben dem Mausoleum verfolgen. Am Abend des 7. November fand ein Empfang für das diplomatische Korps statt, dem Vertreter der Partei- und Staatsführung jedoch demonstrativ fernblieben. Bis auf zwei stellvertretende Volkskommissare (aus den Volkskommissariaten für Auswärtige Angelegenheiten und für Verteidigung) war niemand aus der Staatsführung vertreten. Stalin beging das Jubiläum im engsten Kreis in Vorosilovs Wohnung, am Tag darauf lud die Partei- und Staatsführung Sowjetbürger zum Empfang im Kremlpalast (3: 59). Das änderte sich erst, nachdem Stalin Molotov als Regierungschef abgelöst hatte. Von da an nahm er stets in Begleitung
mehrerer Vertreter der Staatsführung an Empfängen für die Diplomaten teil.
Im zweiten Kapitel (3: 71f.) untersucht Nevezin die Empfänge bei Molotov und die Empfänge in den Kriegsjahren. Im Mai 1939 löste Molotov Litvinov als Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten ab. Stalin musste sich für die Annäherung an die Westmächte oder an Deutschland entscheiden. Im August unterzeichneten Ribbentrop und Molotov in Moskau den Nichtangriffsvertrag und ein geheimes Zusatzabkommen, das die Aufteilung der Interessensphären Deutschlands und der UdSSR in Osteuropa regelte. Der Verlauf der Vertragsunterzeichnung und der anschließende Empfang werden im fünften Kapitel anhand deutscher Überlieferungen nacherzählt, da sowjetische Archivalien „nicht überliefert sind“ (3: 386). Es bleibt zu hoffen, dass im Laufe des deutschrussischen Forschungsprojekts „Deutschland und die Sowjetunion 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven“ von russischer Seite bisher nicht zugängliche Dokumente freigegeben werden.
Darauf sowie auf den am 17. September 1939 erfolgten Einmarsch sowjetischer Truppen in Polen geht Nevezin ausführlich ein. Die Rote Armee rückte bis zur mit Deutschland vereinbarten Demarkationslinie vor. Nevezin schildert das Massaker von Katyn sowie die das Baltikum betreffende Politik der sowjetischen Führung, skizziert die Ergebnisse der Verhandlungen mit Jugoslawien und Japan, verweist auf die aus diesem Anlass durchgeführten oder abgesagten Empfänge für die an den Verhandlungen beteiligten Diplomaten. Dass es bei einer referierenden, Wertungen vermeidenden Aufzählung bleibt, hängt wohl mit der Tabuisierung der Folgen des Paktes in der Erinnerungspolitik der Russischen Föderation zusammen.
„Die chinesische Mauer zwischen dem diplomatischen Korps und der sowjetischen Gesellschaft schien abgetragen zu sein.“ (3: 90) Bemerkenswert war, dass neben dem Volkskommissar für Auswärtiges auch der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare die Einladung zum Empfang am 7. November 1939 unterschrieben hatte. Unter den Eingeladenen waren über 20 Deutsche, darunter sehr viele Militärs in Uniform, erinnern sich Zeitzeugen.
Ihre Anwesenheit wurde von den französischen und englischen Diplomaten ignoriert.
Später fanden sich Vertreter der Alliierten und der sowjetischen Führung häufiger an einem Tisch zusammen. Diese werden im zweiten Kapitel „Treffen im Rahmen der Anti-HitlerKoalition“ beschrieben (3: 92f.). Am 1. Oktober 1941 fand der erste Empfang im Kreml statt. Nevezin liefert Angaben zur Datierung der verschiedenen Empfänge (3: 222), den Austragungsorten und den Teilnehmern (3: 233). Protokollfragen und Zeremoniell sind Gegenstand der Untersuchung im dritten Kapitel (3: 124f.). Welche Speisen und Getränke während der Empfänge gereicht wurden, rekonstruiert Nevezin im vierten Kapitel anhand der Menüs (3: 287f.).
Das fünfte Kapitel, „Diskurs und Image“, enthält eine Analyse der gegenseitigen Wahrnehmung Stalins und der Vertreter der AntiHitler-Koalition (3: 347f.). Letztere kamen aus den USA, England, Frankreich, Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und China. Nevezin interessiert sich für Stalins Einschätzungen dieser Staaten und deren Repräsentanten. Einige erschienen in der sowjetischen Presse (von Stalin unterzeichnet, redigiert oder als redaktionelle Artikel). Etliche, in Stalins Archiv überlieferte - die Beziehungen zu London betreffende - Meldungen der Nachrichtenagentur TASS vor und nach Unterzeichnung des Nichtangriffsvertrages mit Deutschland weisen Bearbeitungsspuren von Stalins Hand auf (3: 353). Ihr Grundtenor, so Nevezin, ist auch in Stalins Statements in Jalta und Potsdam nachweisbar. Detailliert zeigt er auf, wie Frankreich und England vor und nach Eröffnung der zweiten Front nach Möglichkeiten suchten, ihre Zusage, die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner zu behandeln, zu unterlaufen.
Dies blieb nicht ohne Wirkung auf Stalin und dessen Vorstellungen über die Gestaltung Nachkriegseuropas. Einen Garant gegen die Remilitarisierung Deutschlands sah er in einem Bündnis der slawischen Staaten, fasst Nevezin seine Untersuchung zusammen (3: 379). Abschließend referiert er die breite Palette der von westlichen Verbündeten gezeichneten psychologischen Porträts von Stalin. Sie reichen vom gütigen und allwissenden Vater bis hin zum
unbarmherzigen Tyrannen, der den während der Empfänge in den Kriegsjahren anwesenden Volkskommissaren vor den Augen der anwesenden Diplomaten mit Hinrichtung drohte.
Der umfangreiche Apparat enthält eine Aufstellung der 197 von 1928 bis 1953 stattgefundenen Empfänge, an denen Stalin teilnahm, Augenzeugenberichte an die Treffen während der Kriegsjahre, Listen der Sitzordnungen, der gereichten Menüs, sowie biografische Angaben zu den geladenen Gästen.
Literatur
Ezrahi, Christina (2012): Swans of the Kremlin. Ballet and Power in Soviet Russia. Pittsburgh: Universi- ty of Pittsburg Press.
Nevezin, Vladimir (2003): Zastol'nye reci Stalina. Dokumenty i materialy [Stalins Tischreden. Dokumente und Materialien]. Moskva: AIRO-XX. Nevezin, Vladimir (2007): Stalin o vojne. Zastol'nye reci 1933-1945 gg. [Stalin über den Krieg. Tischreden 1933-1945]. Moskva: Eksmo.
Schumatsky, Boris (1999): Silvester bei Stalin. Berlin, Bodenheim: Philo.
Montefiore, Simon Sebag (2005): Stalin. Am Hof des Roten Zaren. Frankfurt a. M.: Fischer.
Zigal'cova, Larissa Vladislavnovna (2000): Politiceskaja kuchnja I. V. Stalina [Die politische Küche I. V. Stalins]. In: Voprosy istorii 11, H. 1, S. 280-287.
Nevezin, Vladimir: Zastol'ja Iosifa Stalina.
Kniga 1. Bol'sie Kremlevskie priemy. [Die großen Empfänge im Kreml.] Moskva: Novyj chronograf 2011; Moskva: AIRO-XXI 2019 (500 Exemplare), 560 Seiten.
Kniga 2. Obedy i uziny v uskom krugu (simpoziumy). [Mittag- und Abendessen im engeren Kreis (Symposien).] Moskva: AIRO-XXI 2019 (500 Exemplare), 528 Seiten.
Kniga 3. Diplomaticeskie priemy. 1939-1945. [Diplomatische Empfänge.] Moskva: AIRO-XXI 2020 (500 Exemplare), 767 Seiten.