GENNADIJ BORDJUGOW
Wehrmacht und Rote Armee -Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung
CHARAKTER, GRUNDLAGEN UND BEWUßTSEIN VON
MENSCHEN UNTER KRIEGSBEDINGUNGEN
Winter 1941. Trotz der Niederlage in der Schlacht bei Moskau
schmiedeten deutsche Soldaten und Offiziere phantastisch anmutende
Zukunftspläne. So berichtete beispielsweise der übergelaufene Soldat
Stanislaw Jendshewitsch, Chauffeur bei der Aufklärung des Armeestabs der
9. Deutschen Armee, daß seine Regimentskameraden immer wieder davon
sprachen, wie sie nach dem Krieg zwischen New York, Paris, London und
Moskau hin- und herreisen werden. Überhaupt würden sie Herren sein, und
die Menschen der unteren Klasse werden für sie arbeiten. Ein anderer,
der Obergefreite Schulz, hatte vor, nach dem Krieg in Moskau zu leben
und dort eine Fabrik zu führen. Er sprach häufig davon und hielt bereits
Ausschau nach Helfern und Fahrern. Und der Gefreite Richard Büß plante,
nach dem Krieg mit seiner Familie in die Ukraine überzusiedeln und dort
ein großes Stück Land zu bewirtschaften. Unteroffizier Behrmann dagegen
wollte seinen Kassiererberuf aufgeben und als Gutsbesitzer in der
Ukraine leben. Feldwebel Rendicke schließlich sah sich als
Schulinspektor und fing bereits an, Russisch zu lernen.1
So gab es immer wieder Soldaten der Wehrmacht, die, während sie auf
einen neuen großen Angriff und die endgültige Niederlage der Roten Armee
warteten, ihren Zukunftsvisionen nachhingen. Doch es kam das Frühjahr
1942, dann der Sommer, und nichts passierte, nur im Süden Rußlands
rückten die Truppen ein wenig vor; das Ende des Krieges war jedoch nicht
in Sicht. Die nur in den deutschen Propagandamedien >zerschlagene< Rote
Armee griff in einigen Frontabschnitten sogar an. Dies hatte zur Folge -
so der gleiche Jendshewitsch -, daß »Trinkgelage, Unzucht, Kasino und
Orgien« an die Stelle der Träume traten.2 Die zunehmende Zersetzung der
Armee war nicht mehr zu übersehen.
Viele fragten sich, wie die Verbrechen an der Zivilbevölkerung in den
besetzten Gebieten der UdSSR solche Ausmaße annehmen konnten, wie nahezu
alle
1 Aussagen des übergelaufenen Soldaten Stanislav
Jendzevic, Chauffeur bei der Aufklärung des Armeestabs der 9. Deutschen
Armee vom 3. Oktober 1942. RGASPI (Rossijskij Gosudarstven-nyj Archiv
social'no-politiceskoj istorii - Russisches Staatsarchiv für
sozialpolitische Geschichte), f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 179.
2 EBD.
moralischen Grundsätze und sogar auch die individuelle Scham außer Kraft
gesetzt wurden, warum bei dem Gefreiten Bruno Kaliga, Teilnehmer an der
Schlacht bei Stalingrad, wie auch bei vielen anderen Deutschen »die
Geduld erschöpft« war, »Humor und Mut verloren« gingen und die
Verzweiflung einen Grad erreichen konnte, daß er, würde er vor ein
Kriegsgericht gestellt und erschossen werden, dies als »Erlösung für
seinen gequälten Körper« empfunden hätte.3
Frühjahr 1945. Der Befreiungsfeldzug der Roten Arbeiter- und
Bauernarmee (RKKA) näherte sich seinem Ende. Zurück lagen lange Monate
eines schrecklichen Krieges mit enormen Verlusten. Die Soldaten und
Offiziere hofften, bald nach Hause, zu Familie und Freunden zurückkehren
zu können. Das Ende des Krieges sah jedoch anders aus: Es war von
massenhafter Gewaltanwendung und Plünde-reien überschattet. Angesichts
dieser Situation wagten es damals einige Offiziere wie der Politoffizier
Lew Kopelew laut zu fragen:
Was geschah in Ostpreußen? War eine derartige Verrohung unserer Leute
wirklich nötig und unvermeidlich - Vergewaltigung und Raub, mußte das
sein? [...] In den Zeitungen, im Radio riefen wir auf zur heiligen
Rache. Aber was für Rächer waren das, und an wem haben sie sich gerächt?
Warum entpuppten sich so viele unserer Soldaten als gemeine Banditen,
die rudelweise Frauen und Mädchen vergewaltigten - am Straßenrand im
Schnee, in Hauseingängen; die Unbewaffnete totschlugen, alles, was sie
nicht mitschleppen konnten, kaputtmachten, verhunzten, verbrannten? ...
Sinnlos, aus purer Zerstörungswut... Wie ist das nur alles möglich
geworden?4
ENTMYTHOLOGISIERUNG DER KRIEGSGESCHICHTE
Wer versucht, seine Vergangenheit zu bewältigen<, muß sich zwangsläufig
auch von vielen historischen Mythen verabschieden. Zu diesen gehörte bis
vor kurzem insbesondere auch der Mythos von der >sauberen unbescholtenen
Wehrmacht« und der heldenmütigen Roten Armee<. Gegen Ende des 20.
Jahrhunderts verlagerte sich das Interesse deutscher und russischer
Historiker von der Analyse großangelegter Kampfhandlungen und
-Operationen, den strategischen Wendepunkten sowie den Ergebnissen und
Folgen zur Untersuchung der auch menschlichen Dimension, zur Frage etwa
nach dem Preis, den Opfern und dem Leiden von Millionen von Menschen im
Krieg.
Seit Mitte der 60er Jahre hatten sich als erste westdeutsche Historiker
- Hans-Adolf Jacobsen, Manfred Messerschmidt, Andreas Hillgruber,
Christian Streit, Helmut Krausnick, Hans-Heinrich Wilhelms und andere -
sowie die Journalisten Ernst
3 ELENA SERENKO: Pis'ma iz Stalingrada (Briefe aus
Stalingrad). In: Nezavisimaja gazeta vom 31. Dezember 1997, S. 5.
4 LEV KOPELEV: Chranit' vecno. Moskau 1990. S. 16f.;
deutsch LEW KOPELEW: Aufbewahren füralle Zeit! Mit einem Nachwort von
Heinrich Böll. Hamburg 1976, S. 16 und 17.
Klee und Paul Kohl mit den Verstößen gegen internationale Gesetze und
Konventionen im Krieg gegen die Sowjetunion beschäftigt. Sie wiesen auch
darauf hin, daß dieser Krieg ein Vernichtungskrieg mit verbrecherischem
Charakter war.5 In diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten der
früheren DDR-Historiker Norbert Müller, Dietrich Eichholtz, Klaus
Gessner und Kurt Pätzold zu erwähnen.6 Die aufgrund dieser
Untersuchungen mögliche neue Sichtweise auf den Krieg wurde seit 1979
vor allem durch die vom bundesdeutschen Militärgeschichtlichen
Forschungsamt herausgegebene Reihe »Das Deutsche Reich im Zweiten
Weltkrieg« sowie das großangelegte Projekt des Hamburger Instituts für
Sozialforschung »Wehrmacht und NS-Verbrechen« weiter vertieft. Die
hieran beteiligten Wissenschaftler befaßten sich vor allem mit der Frage
von >Raub, Terror und Plünderung« durch die Heeresführung in den
besetzten Gebieten Europas, insbesondere der Sowjetunion. Darüber hinaus
versuchte man, die Ursachen für die Verdrängung der Verbrechen der
Wehrmacht aus dem sozialen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland
aufzudecken und ein »Psychogramm des kollektiven Umgangs« mit der
Vergangenheit zu erstellen. Dahinter stand die Frage nach den Gründen,
warum sich der >Mythos der unpolitischen Wehrmacht« über einen so langen
Zeitraum hat halten können und warum es in der westdeutschen
Historiographie zu einer ganzen »Skala von Stereotypen von der
Ohnmachts- und Opferperspektive bis zum Gegenpol, der Sinngebung des
>Abwehrkampfes« im Osten« herausgebildet hat.7 Die Ergebnisse dieses
Untersuchungsansatzes wurden in der in zahlreichen deutschen Städten
gezeigten Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht« und
in dem gleichnamigen von Hannes Heer herausgegebenen Standardwerk
präsentiert.8 Als Reaktion auf das Hamburger Projekt veröffentlichte das
Militärgeschichtliche Forschungsamt den Band »Die Wehrmacht. Mythos und
Realität« mit Beiträgen von 60 Autoren aus sieben Ländern; der kritische
Einführungstext entkräftet ebenfalls die Legende von der
>unbescholtenen< Wehrmacht und führt neue Archivmate-
5 Vgl. MANFRED MESSERSCHMIDT: Die Wehrmacht im NS-Staat.
Hamburg 1969; CHRISTIAN STREIT: Keine Kameraden. Stuttgart 1978; PAUL
KOHL: »Ich wundere mich, daß ich noch lebe." Sowjetische Augenzeugen
berichten. Gütersloh 1990; Ders.: Der Krieg der deutschen Wehrmacht und
der Polizei 1941-1944. Frankfurt a.M. 1995; HELMUT KRAUSNICK: Hitlers
Einsatztruppen. Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Frankfurt a.M.
1998 u.a.
6 Beispielsweise Okkupation, Raub, Vernichtung:
Dokumente zur Besatzungspolitik der faschistischen Wehrmacht auf
sowjetischem Territorium 1941 bis 1944. Hrsg. von Norbert Müller. Berlin
(Ost) 1980; Der Weg in den Krieg. Studien zur Geschichte der
Vorkriegsjahre (1935/36 bis 1939). Hrsg. von Dietrich Eichholtz und Kurt
Pätzold. Berlin (Ost) 1989; KLAUS GESSNER: Geheime Feldpolizei. Zur
Funktion und Organisation des geheimpolizeilichen Exekutivorgans der
faschistischen Wehrmacht. Berlin (Ost) 1986; Verfolgung, Vertreibung,
Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942.
Hrsg. von Kurt Pätzold. Leipzig 1983.
7 KLAUS NAUMANN: Wehrmacht und NS-Verbrechen 1941-1944.
In: Mittelweg 36 (1992), H. 5, S. 130-136, hier S. 130f., 133.
8 Vernichtungskrieg. Verbrechender Wehrmacht 1941-1944.
Hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann. Hamburg 1995.
rialien über die Okkupationspolitik der deutschen Heereskräfte in den
besetzten Gebieten der UdSSR in die Diskussion ein.9
Zahlreiche Historiker wie z.B. Hans-Heinrich Nolte bemängelten, daß
Wissenschaftler aus Rußland in all diesen Untersuchungen nicht zu Wort
kamen.10 Diese Situation hat sich inzwischen geändert, so daß
Veröffentlichungen russischer Historiker zu diesem Thema ebenfalls in
die Forschung einbezogen werden.11
In den letzten Jahren entbrannte in Deutschland und Großbritannien
erneut die Diskussion um die Verbrechen der Roten Armee gegen die
deutsche Zivilbevölkerung. Im Eifer des Gefechts stellen einige
Journalisten Wehrmacht und Rote Armee auf eine Stufe und vernachlässigen
dabei den prinzipiell unterschiedlichen Charakter der von ihnen jeweils
zu verantwortenden Verbrechen. In der russischen Historiographie wird
ein solcher Vergleich gar nicht erst gezogen. Die Massenexzesse der
Rotarmisten waren lange tabuisiert, so daß einige Veteranen sie auch
jetzt noch abstreiten. Die meisten Historiker der älteren Generation
lassen sich gar nicht erst auf dieses Thema ein, weil sie der Auffassung
sind, daß niemand in der UdSSR die deutschen Truppen gerufen habe und
die Zahl der Opfer des Genozids der Nationalsozialisten in den besetzten
Gebieten der UdSSR - es wurden 13,6 Millionen sowjetische Bürger getötet
- erheblich höher war als die Verluste der Zivilbevölkerung in
Deutschland und auch dreieinhalb Jahre Gewalt und Unmenschlichkeit nicht
mit der viermonatigen Besatzung Ostdeutschlands (bis zur Gründung der
SMAD am 5. Juni 1945) zu vergleichen seien. Und dennoch müssen sich
Historiker dem Vergleich stellen. In diesem Zusammenhang sei auf die
ersten, freilich umstrittenen Arbeiten der russischen Wissenschaftler
Pawel Knyschewskij, Boris Sokolow, Michail Semirjaga, Jewgenij Plimak u.
a. verwiesen.12 Nach wie vor aktuell bleibt die Forderung der Freiburger
Historiker Wolfram Wette und Gerd R. Ueberschär, daß uns nur »die genaue
Kenntnis des schrecklichen Geschehens und der Mut zur Wahrheit
weiterführt«13.
So schmerzhaft es sein mag, auch russische Wissenschaftler und die
russische Gesellschaft haben sich der Verantwortung der Roten Armee für
die sinnlose Ermordung von deutschen Zivilisten, für Plünderung und
Gewalt zu stellen. Die
9 Die Wehrmacht. Mythos und Realität. Hrsg. von
Rolf-Dieter Müller und Hans-Erich Volkmann. München 1999.
10 HANS-HEINRICH NOLTE: Politik des Halbwissens:
Geschichtswissenschaft und Russlandkrieg- Palyse (1998), H. 14, S.
27-32.
11 Vgl. beispielsweise die Artikel von JURIJ RYBALKIN,
MICHAIL LESIN, MICHAIL SKAROVSKIJ, VLADIMIR VSEVOLODOV und ALEKSANDR
EPIFANOV in: GABRIELE GORZKA/KNUT STANG (Hrsg.): Der Vernichtungskrieg
im Osten - Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion aus Sicht
russischer Historiker. Kassel 1999.
12 PAVEL KNY§EVSKIJ: Dobyca. Tajny germanskich reparadj
(Beute. Die Geheimnisse der deutschen Reparationen). Moskau 1994; M. I.
SEMIRJAGA: Kakmyupravljaliv Germanii (Wie wir in Deutschland regiert
haben). Moskau 1997 u.a.
13 GERD UEBERSCHÄR/WOLFRAM WETTE: »Unternehmen
Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941. Frankfurt
a.M. 1991, S. 9.
kritische Beleuchtung dieses Problems erfordert eine erneute,
sorgfältige Analyse schon bekannter sowie auch neuer Quellen zu den
negativen Erscheinungen in der Geschichte der Roten Armee. Dadurch wird
ihr Verdienst am Sieg über Deutschland keineswegs geschmälert. Die
eingehende Diskussion dieses Problemkomplexes verspricht vielmehr
Einsichten, die in Zukunft keinerlei Zweifel an ihrer Berechtigung
aufkommen lassen werden, so daß von Doppelmoral bestimmte Urteile über
das Ausmaß des Geschehenen ausgeschlossen sind und diejenigen, die sich
Verbrechen haben zuschulden kommen lassen, ihre Verantwortung nicht auf
die Schultern der gesamten Armee wie der Gesellschaft als solche
abwälzen können. Damit wird erreicht sein, daß die Erinnerung an die
Verbrechen nicht mehr wie in der Zeit des Kalten Krieges verdrängt wird
und an die Stelle einer interessengeleiteten Instrumentalisierung von
Kriegserfahrungen eine sachgebundene kritische Analyse tritt, die
endgültig Abschied nimmt von durch ideologische Klischees geprägten
Vorurteilen.
Während die Begriffe Wehrmacht und Holocaust früher unvereinbar
schienen, lassen sie sich heute aufgrund zahlreicher eingehender
Untersuchungen »nicht mehr voneinander trennen«.14 Inzwischen hat sich
der Terminus des »anderen Holocaust« eingebürgert, der, wie Wolfram
Wette vermerkt, quantitativ größere Ausmaße hatte als der Völkermord an
den Juden: »Die Zahl sowjetischer Bürger, deren Tod außerhalb des
Kampffeldes entweder gezielt organisiert oder von den Deutschen
gebilligt wurde, ist vermutlich erheblich höher anzusetzen als die Zahl
der systematisch vernichteten Juden ... Wir haben den einen Holocaust
angenommen und den anderen verdrängt.«15
ZUR DOKUMENTENZUGÄNGLICHKEIT
Auch für den »anderen Holocaust« gilt, daß große Sorgfalt bei der Suche
und Präsentation überzeugender Dokumente und Zeugnisse über die
begangenen Greueltaten geboten ist. Von den zahlreichen ermittelten
russischen Archivquellen konnten nur diejenigen Dokumente berücksichtigt
werden, bei denen sich eindeutig nachweisen läßt, daß die beschriebenen
Verbrechen tatsächlich von Wehrmachtsangehörigen verübt wurden. In den
vorliegenden Dokumenten werden, wenn von Deutschen die Rede ist, diese
in der Regel nicht bestimmten Formationen, Armeen
14 KARL-HEINZ JANSSEN: Als Soldaten Mörder wurden. In:
Die ZEIT vom 17. März 1995. Der Beitrag wurde nachgedruckt in:
Wehrmachtsverbrechen. Eine deutsche Kontroverse. Hrsg. von Heribert
Prantl. Hamburg 1997, S. 29-36. Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommt
auch WOLFGANG BENZ: Der Holocaust. 3. Aufl. München 1997, S. 59.
15 V. VETTE [WOLFRAM WETTE]: Obraz vraga: rassistskie
elementy v nemeckojpropagandeprotiv So-vetskogo Sojuza. In: Rossija i
Germanija v gody vojny i mira (1941-1995). Mjul'chajmskaja iniciativa
(Mühlheimer Initiative). Moskau 1995, S. 234. Vgl. zur allgemeinen
Problematik auch WOLFRAM WETTE: Die Wehrmacht. Feindbilder.
Vernichtungskrieg. Legenden. Frankfurt a.M. 2002.
oder Sonderabteilungen zugeordnet. Auch heute noch hat es für viele
Menschen in Rußland keinerlei Bedeutung, ob die Aggressoren als
Verbrecher und Henker der Wehrmacht oder der SS, der Polizei oder
anderen Militär- oder Zivileinheiten angehörten. Man unterscheidet nur
zwischen »Deutschen allgemein« und »Hitlerbanditen« oder »Polizaj«.
Im weiteren werde ich mich nicht mit jenen Verbrechen beschäftigen, die
aufgrund der Quellenlage und der historischen Forschung mit der SS und
dem SD, mit den speziellen Einsatzgruppen und des Sonderkommandos, mit
den Wachsoldaten der Konzentrationslager oder den Namen Himmler und
Eichmann in Verbindung gebracht werden; auch geht es hier nicht um die
Verbrechen, die von Dolmetschern und Lazarettärzten verübt wurden. Es
werden also alle Fakten vernachlässigt, die sich nicht eindeutig der
Wehrmacht zuordnen lassen. Entsprechend wird auch bei den Dokumenten
über die Rote Armee vorgegangen, deren Unterabteilungen getrennt von den
Requirierungs- und Beutekommandos, der Spezialeinheit SMERSCH (»Tod den
Spionen«) sowie den Einheiten und operativen Abschnitten des NKGB
betrachtet werden müssen.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist vor allem die erneute sorgfältige
Prüfung von historischen Dokumenten. Ein Beispiel hierfür ist der »Fall
Katyn«. Die Ausstellung »Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht«
mußte im November 1999 vorübergehend geschlossen werden, da sich elf im
Hinblick auf dieses Ereignis gezeigte Fotodokumente nicht eindeutig der
Wehrmacht zuordnen ließen.
Ein ähnliches Problem stellte die Überprüfung von die deutsche Seite
belastendem Material durch die Politorgane des ZK der WKP (b) und der
Roten Armee sowie auch des NKGB dar. Beispielsweise plante die Redaktion
der Zeitung »Kom-somolskaja prawda« im Dezember 1942 die
Veröffentlichung des Tagebuchs von Oberst A. Wolowik und L. Liwschiz,
das herzzerreißende Bilder von dem brutalen Vorgehen der deutschen Seite
(wie Skalpieren, Kopfabschlagen, Kannibalismus und weitere perverse
Tötungsmethoden) enthielt. Die Fakten zeigten deutlich, daß hier eine
Fälschung vorlag: Es stellte sich heraus, daß es sich um >Dokumente<
handelte, die aus in einem Unterstand der deutschen Armee gefundenen
Fotos zusammengestückelt waren.16 Der am 4. November 1942 in der
gleichen Zeitung veröffentlichte Artikel von B. Kowaljow »Der
Schachty-Prozeß« (Schachtinskoje delo) erwies sich ebenfalls als
Fälschung. Eine Untersuchung ergab, der Verfasser des Beitrags hatte die
genannten Orte nie aufgesucht und die Familie Fessenko, deren
schreckliche Ermordung im zitierten Brief beschrieben wird (die Mutter
war angeblich auf einem Pfahl aufgespießt, die Kinder verbrannt und die
Schwestern vergewaltigt worden), lebte in einem ganz anderen Bezirk. Der
Artikel endete noch dazu mit einem Aufruf an die Brüder an der Front:
16 RGASPI, f. 5, op. 6, d. 213, Bl. 1-14.
Übt Rache am Feind für eure Familie, für die Schändung der Mädchen, für
alle, die erhängt wurden. Kämpfer der Roten Armee! Ich bitte euch -
schlagt kräftiger zu als der Feind. Vernichtet ihn überall. Das sind
keine Menschen, sondern Bestien. Ihnen gebührt kein Platz auf der
Erde.17
Den mir vorliegenden Dokumenten aus dem Staatsarchiv der Russischen
Föderation (GARF), dem Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (CAMO
RF) und dem Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte
(RGASPI) nach zu urteilen, gab es verschiedene Kanäle, um Verbrechen
gegen Zivilisten aufzuspüren und zu registrieren: Zu ihnen zählen die
Meldungen der 7. Abteilungen der Polit-verwaltungen der Armeen und
Frontabschnitte an die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee
(hierfür wurden monatlich mindestens 40 Kriegsgefangene befragt), die
wiederum an das Sowinformbüro und das ZK der WKP (b) weitergeleitet
wurden; die Sondermitteilungen der 1. (Aufklärungs-)Verwaltung des NKWD
der UdSSR, die der obersten Führung des Landes und den ZK-Abteilungen
des ZK zugingen; die Protokolle über Verbrechen, die von Amtspersonen
wie NKWD-Vertretern, Offizieren der Roten Armee und Mitarbeitern der
örtlichen Behörden unterzeichnet wurden18; die Informationen aus
Partisanenabteilungen sowie die Unterlagen und Briefe, die bei
gefallenen Wehrmachtssoldaten und -offi-zieren gefunden wurden.
Über die Verbrechen sowjetischer Soldaten und Offiziere wurden das
Kommando der Roten Armee und die politische Führung der Sowjetunion
durch Sondermeldungen der Sonderdienste sowie durch Berichte der
Politabteilungen und der Politischen Verwaltung der Armeen und
Frontabschnitte, der Organe der Militärstaatsanwaltschaft der Armeen und
Frontabschnitte und der Abteilungen für Militärzensur, die die Briefe
von Militärangehörigen überprüften, informiert. In einem solchen Bericht
werden beispielsweise zahlreiche Fälle von Plünderung beschrieben, die
die Verfasser dieser Briefe keineswegs für verwerflich ansahen. So
schreibt die Militärangehörige Je. Ochrimenko an ihre Familie: »Mama, er
hat ein eigenes Auto und Koffer voller Beutestücke, Kleidung und Schuhe,
und alles für mich.«19
17 EBD., Bl. 19-24.
18 Beispielsweise unterzeichneten das am 3. August 1944
von Major I. A. Skatschkow aufgesetzte »Protokoll über die Greueltaten,
Mißhandlungen und barbarischen Verstöße der deutsch-faschistischen
Eroberer in der Stadt Brest« die Vorsitzenden des Exekutivkomitees des
Stadtsowjets, der städtischen Gesundheitsabteilung, der Abteilung für
Volksbildung beim Gebietssowjet, des Kommunistischen Jugendverbands
Weißrußlands, eine Hausangestellte, der Leiter der Arbeiterkantine, ein
Kinotechniker, ein Lehrer und ein polnischer Geistlicher. Vgl. RGASPI,
f. 71, op. 25, d. 18624, Bl. 10. Es wurden auch Gebietskommissionen zur
Unterstützung der Tätigkeit der Außerordentlichen Staatlichen Kommission
zur Feststellung und Untersuchung von Vergehen deutsch-faschistischer
Okkupanten und ihrer Helfershelfer eingerichtet. Vgl. RGASPI, f. 71, op.
25, d. 18611.
19 CA MO RF (Central'nyj archiv Ministerstva Oborony -
Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums), f. 372, op. 6570, d. 76,
Bl. 90; auch abgedruckt in: Otetotvennye archivy 1992, Nr. 1, S. 105.
Im Folgenden will ich auf von der Wehrmacht bzw. der Roten Armee verübte
Verbrechen hinweisen und versuchen, sie zu beurteilen. Ausgehend von
ihrer Charakterisierung wären dann die Bedingungen zu klären, unter
denen diese Verbrechen stattfanden. Hieran schließt sich die Frage an,
inwieweit beide an dem jeweiligen Verbrechen beteiligte Seiten dies in
der einen oder anderen Weise zugaben und es ihnen als solches bewußt
war. Unser Interesse gilt somit allen Fakten, in denen die handelnden
Personen das Geschehen direkt oder indirekt als intendiert und moralisch
verwerflich bewerteten, es schriftlich festhielten und zu einem
Bestandteil ihrer Autobiographie werden ließen. Allerdings weist Knut
Stang darauf hin, daß es unabhängig von den Ergebnissen, zu denen man
dabei kommt, [...] nützlich für die eigene Biographie und damit für die
fortgesetzte Herstellung und Rekonstruktion der eigenen Identität [ist],
sich auch mit der Schuldfrage in Selbstreflexion und biographischer
Hinsicht zu befassen. Es ist aber wohl dem Selbstwertgefühl selten
sonderlich zuträglich, sich dabei so inkriminiert zu finden, daß man
unter der Last der Schuld zu Boden geht.20
Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, wie schwierig es ist,
ein unparteiisches internationales Tribunal ins Leben zu rufen, das
gleichermaßen gegen Besiegte und Sieger Recht spricht. So handelte es
sich bei dem Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 1945, auf dessen
Grundlage der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg eingesetzt
wurde und seine Rechte erhielt, dem Beschluß des Alliierten Kontrollrats
Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 sowie den Gesetzen und Verordnungen, die in
den einzelnen Staaten über die Aburteilung der Kriegsverbrecher erlassen
wurden, um Gesetze, die sich ausschließlich gegen die Besiegten
richteten. Aus diesem Grund befasse ich mich in meiner Untersuchung
nicht mit den juristischen Schuldgeständnissen nach dem Krieg; diese
sind von eigenen Leiden und Schmerzen bzw. den existentiellen
Zukunftssorgen der Betreffenden beeinflußt und waren mit dem Bestreben
verbunden, durch die Art der Aussage einer Strafe zu entgehen und
möglichst bald nach Hause zurückkehren zu dürfen. Vielmehr geht es mir
um Belege dafür, daß sich die Menschen noch während des Krieges, als
dessen Ausgang und eine künftige strafrechtliche Verfolgung noch nicht
abzusehen waren, selbst ihrer Verbrechen bewußt wurden; d.h., wie sie
ihre Tat nicht vor Gericht, sondern vor ihren Untergebenen, ihrer
Familie und vor sich selbst beurteilten.
Wie typisch waren nun Einschätzungen dieser Art sowohl für die
Wehrmacht als auch für die Rote Armee? Die Frage ist schwierig zu
beantworten; noch immer kennen wir nicht den wahren Umfang von
Archivdokumenten zu diesem Thema. Bisher sind uns sowohl von der eben
als auch der anderen Seite nur wenige Fälle direkter, indirekter, häufig
namenloser Schuldeingeständnisse bekannt. Wer über Verbrechen sprach und
sich dazu bekannte, an ihnen in gewisser Weise mitgewirkt zu haben,
hatte dabei durchaus nicht unbedingt auch einen Durchblick über das
20 KNUT STANG: Schuld und Schuldeingeständnis:
Fortgesetzte Schwierigkeiten mit einem alten Problem In: Gorzka/Stang:
Der Vernichtungskrieg im Osten (wie Anm. 11), S. 131-152; hier S. 133f.
gesamte Ausmaß des Unheils, geschweige denn reflektierte er über seine
persönliche Haltung dazu.
WAS SIND VERBRECHEN GEGEN DIE ZIVILBEVÖLKERUNG?
In Artikel 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs, das
dem Nürnberger Prozeß zugrunde lag, werden Fragen der Rechtsprechung und
allgemeine Prinzipien behandelt. Zu den Handlungen, die der
Rechtsprechung des Militärgerichtshofs unterliegen und für die der Täter
persönlich verantwortlich ist, werden in Paragraph b Verbrechen gegen
die Menschlichkeit gezählt. Zu solchen Verbrechen gehören die folgenden:
Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche
Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während
des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen
Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit
einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar
unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß,
in dem sie begangen wurde, oder nicht.21
54 784 der im Staatsarchiv der Russischen Föderation aufbewahrten Akten
der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und
Untersuchung von Vergehen deutsch-faschistischer Okkupanten und ihrer
Helfershelfer betreffen Verbrechen an der sowjetischen
Zivilbevölkerung22. Entsprechend den dort angeführten Fakten lassen sich
die Verbrechen wie folgt kategorisieren: Einsatz der Zivilbevölkerung
bei Kampfhandlungen, Zwangsmobilisierung der Zivilbevölkerung,
Erschießung von Zivilisten und Zerstörung ihrer Wohnungen,
Vergewaltigung und Jagd auf Menschen, die als Zwangsarbeiter für die
deutsche Industrie eingestellt waren.
Bereits in einer der ersten Noten des Volkskommissariats für Auswärtige
Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942 wurden der
Weltöffentlichkeit Dokumente über den Einsatz der Zivilbevölkerung bei
Kampfhandlungen vorgelegt. Sowohl während ihrer Angriffe als auch beim
Rückzug deckten Verbände und Truppenteile der Wehrmacht die Kampfreihen
der eigenen Truppen durch Zivilisten, überwiegend Frauen, alte Männer
und Kinder.
21 Njurnbergskij process. Sbornik materialov v 8-mi
tomach (Der Nürnberger Prozeß. Sammlung von Materialien in 8 Bänden).
Moskau 1987ff; deutsch Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor
dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945 - 1.
Oktober 1946. Amtlicher Wortlaut in deutscher Sprache. 42 Bde. Nürnberg
1947-1949 (Nachdruck: München 1984ff.); hier Bd. 1, S. 12. Nachfolgend
werden diese Ausgaben mit Kurzform NP plus Band- und Seitenangabe
zitiert.
22 Crezvycajnaja gosudarstvennaja komissija po
ustanovleniju i rassledovaniju zlodejanij nemecko-fasist-skich
zachvatcikov i ich soobscnikov. Diese Akten werden im GARF
(Gosudarstvennyj archiv Ros-sijskoj Federacü - Staatsarchiv der
Russischen Förderation) aufbewahrt.
Am 28. August 1941 versammelten die faschistischen deutschen Truppen bei
einem Übergang über den Fluß Iput, da sie nicht in der Lage waren, den
standhaften Widerstand der Truppenteile der Roten Armee zu überwinden,
die ortsansässige Bevölkerung der bjelorussischen Stadt Dobrusch im
Bezirk Gomel und trieben unter Androhung des Erschießens Frauen, Greise
und Kinder vor sich her, hinter denen sie dann ihre Kampfgliederungen
entfalteten und zum Angriff vorgingen.23 [...]
Am 8. Dezember deckten die Nazis ihren Abzug aus dem Dorf Jamnoje im
Bezirk Tula durch ortsansässige Einwohner. Am 12. Dezember nahmen sie in
dem gleichen Kreise 120 Greise und Kinder zusammen und schickten sie
während der Kämpfe gegen die angreifenden Truppenteile der Roten Armee
ihren Soldaten voraus.24
Ähnliche Fälle wurden auch bei Rostow sowie im Leningrader, Smolensker
und Kalininer Gebiet registriert. Die Sicherung der vorrückenden Truppen
durch Zivilisten wurde im Oktober 1942 auch mehrfach in Stalingrad
beobachtet.25 Außerdem setzte man die Bevölkerung für besonders
gefährliche Arbeiten wie die Räumung von Minenfeldern ein.
Mit den steigenden Verlusten der deutschen Armee, insbesondere nach den
schweren Niederlagen im Winter 1942/1943, nahm die Zwangsmobilisierung
der Zivilbevölkerung für die Aufstellung antisowjetischer Truppenteile
in den besetzten Gebieten enorm zu. Im Frontstreifen mobilisierten die
Deutschen alle Männer, und zwar auch Kinder und Alte, die aus
irgendeinem Grund nicht nach Deutschland
23 NP, russ. Bd. 5, S. 98; dt. Bd. 7, S. 506.
24 EBD.
25 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 190.
verschleppt wurden. Nach dem Aufruf zur »totalen Mobilisierung« in
Deutschland verpflichteten die Besatzungsbehörden nicht nur die Bewohner
der frontnahen sondern auch aller anderen besetzten Gebiete zum Kriegs-
oder Arbeitsdienst. Denjenigen, die sich der Mobilisierung zu entziehen
versuchten, drohten Repressalien bis hin zur Erschießung.26
Zu den Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion gehörte auch die
Erschießung von Zivilisten und das Zerstören ihrer Wohnungen. Als
deutsche Truppen im Januar 1942 den Ort Mjassojedowo, Bezirk Belgorod,
verließen, zündeten sie das ganze Dorf bis zum letzten Haus an und
vertrieben die Bevölkerung gewaltsam. Im Bericht für das Sowinformbüro
wird mitgeteilt:
Am 24. Januar beschlossen acht Frauen aus diesem Dorf, die 60jährige A.
Russanowa, die 17jährige Je. Kondratjewa, die 18jährige S. Lupandina, M.
Speziwzewa, Mutter von drei Kindern, M. Mursajewa, Mutter von zwei
Kindern, A. Kondratjewa und der 15jährige Junge N. Lupandin in ihr
Heimatdorf zu gehen. Unterwegs trafen sie auf einen deutschen
Aufklärungstrupp, 20 Mann stark. Die faschistischen Schurken packten die
schutzlosen Frauen, zogen ihnen allen die Filz- und Lederstiefel aus,
führten sie zum anderen Dorf ende in einen Keller, zwangen sie, sich
hinzuknien und erschossen sie alle der Reihe nach.27
Während eines Angriffs deutscher Truppen im Juni desselben Jahres
versteckten sich die Bewohner von Bolschaja Berjoska, Gebiet Brjansk,
während der Offensive der deutschen Truppen im Wald. Sie erhielten den
Befehl, ins Dorf zurückzukehren, und dann trug sich Folgendes zu:
150 alte Männer, Frauen und Kinder kehrten nach Hause zurück. Danach
wurden sie in die Kolchosescheunen getrieben, mit Bajonetten erstochen
und mit Gewehrkolben erschlagen. Elf Kinder im Alter von 12-13 Jahren
wurden lebendig begraben.
Am 23. Juli um 7 Uhr morgens überfielen deutsche Truppen zusammen mit
1500 Polizisten im gleichen Gebiet ein Dorf, in dem sich Partisanen
aufhielten. Der Kampf zog sich bis 21 Uhr hin. Nachdem sich die
Partisanen in den Wald zurückgezogen hatten, zerstörten die Deutschen
das Dorf und zündeten 529 von 542 Häusern, drei Schulen, drei
Dampfbäder, das Krankenhaus und den Kindergarten an.28
Das Gerichtsprotokoll des Kriegstribunals der 374. Schützendivision
Ljuban vom 29. November 1944 (das auszugsweise dem Nürnberger
Gerichtshof vorgelegt wurde) enthält die Aussagen des Angeklagten Le
Court, die er vor dem
26 Von der Hauptverwaltung Aufklärung der RKKA erstellte
Übersicht über die Maßnahmen der deutschen Behörden in den vorübergehend
besetzten Gebieten, der erbeutete Dokumente sowie von Juni 1941 bis März
1943 eingegangene ausländische Presse- und Agenturmaterialien zugrunde
lagen. In: Neizvestnaja Rossija. XXvek Pas unbekannte Rußland. 20.
Jahrhundert) 1993, Bd. 4, S. 265. Meldung von Brigadekommissar I.
Michal'cuk, Leiter der Politabteilung der 21. Armee, ans Sowinformbüro
vom 26. Februar 1942. RGASPI, f.
27 op. 125, d. 91, Bl. 26.
28 Meldung der Politverwaltung der Brjansker Front an
die Politische Hauptverwaltung der RKKA vom 15. Juni 1942. RGASPI, f.
17, op. 125, Bl. 134,149.
Militärfeldgericht gemacht hatte. Le Court gehörte nicht der SS an,
sondern war ein gewöhnlicher parteiloser Obergefreite der Wehrmacht, 27
Jahre alt. In Stargard (Pommern) geboren, hatte dort bis zum Krieg
gelebt, war Kinobesitzer gewesen und dann zur Armee einberufen worden.
Seinen Militärdienst leistete er in der 1. Kompanie der 4.
Luftwaffen-Regiments. Le Court sagte Folgendes aus:
Vor meiner Gefangennahme durch die Truppen der Roten Armee, d.h. bis
zum Februar 1944, diente ich als Laborant in der Radfahrer-Kompanie der
2. Luftwaffen-Infante-rie-Division 4 in der Kommandantur des Flugplatzes
E 33/XI. Außer den Aufnahmen machte ich in der dienstfreien Zeit andere
Arbeiten, d. h. ich erschoß im eigenen Interesse kriegsgefangene
Rotarmisten zusammen mit friedlichen Bürgern. Ich habe Aufzeichnungen
gemacht und in einem besonderen Buche aufgezeichnet, wieviel
Kriegsgefangene und wieviel Einwohner ich erschossen habe [...]. Im
November 1942 nahm ich an der Erschießung von 92 Sowjetbürgern teil. Von
April bis Dezember, als ich im Luftwaffen-Infanterie-Regiment war,
beteiligte ich mich an der Erschießung von 55 Sowjetbürgern; ich führte
deren Erschießung aus [...]. Außerdem nahm ich an Strafexpeditionen teil
und steckte Häuser in Brand. Insgesamt wurden von mir mehr als 30 Häuser
in verschiedenen Dörfern niedergebrannt. Ich kam mit der Strafexpedition
ins Dorf, trat in die Häuser ein und teilte der Bevölkerung mit, daß
niemand die Häuser verlassen soll und daß wir die Häuser in Brand
stecken werden. Ich steckte ein Haus an, und niemand wurde aus dem Haus
herausgelassen. Wenn jemand sich retten oder aus dem Hause zu fliehen
versuchte, so wurde er ins Haus zurückgetrieben oder erschossen. Auf
solche Weise wurden von mir mehr als 30 Häuser und 70 friedliche
Einwohner, hauptsächlich Greise, Frauen und Kinder verbrannt [...] ,29
Ahnliche Aussagen machte auch der gefangengenommene Obergefreite der 2.
Kompanie der 9. Panzerdivision Arno Schwager:
Beim Rückzug aus Kursk [...] erhielten wir den Befehl, alle Orte, die
wir verließen, in Brand zu stecken. Weigerten sich die Bewohner, ihre
Häuser zu verlassen, sperrten wir sie ein und zündeten sie zusammen mit
ihren Häusern an ...30
Erbarmungslos, wie die Gesetze des Krieges sind, geriet die
Zivilbevölkerung in Gebieten, in denen die Partisanenbewegung besonders
aktiv war, häufig ins Zentrum der ausbrechenden Kämpfe und wurde so zum
unfreiwilligen Opfer beider Seiten. So ließen die »Faschisten« ihren
Ärger über mißlungene Straf Operation gegen die Partisanen immer wieder
an der Zivilbevölkerung aus. Auch unbedeutende Kampfaktionen und
Sabotageakte der Partisanen in der Nähe von Ortschaften wurden mit
Repressionen geahndet. Im November 1941 verwundeten Aufklärer der
Partisanenbewegung im Dorf Uspenka, Gebiet Tschernigow, einen deutschen
Soldaten. Am nächsten Morgen erschossen die Deutschen mehrere Bewohner
und nahmen 75 Bewohner als Geiseln. Im Dorf Kutejkowo zerschnitten
Partisanen an zwei Stellen Telefonleitungen, eine Aktion, die sie auch
in größerer Entfernung von
29 NP, russ. Bd. 5, S. 99; dt. Bd. 7, S. 510f.
30 Meldung der Politischen Hauptverwaltung der RKKA vom
23. September 1942 ans ZK der VKP(b). RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl.
15-16.
der Ortschaft hätten durchführen können. Am folgenden Tag zündeten die
Deutschen einige Häuser an und erschossen die darin lebenden
Kolchosebauern. Im Dorf Troizkoje zündete man ein unbeladenes Auto an,
während man das benachbarte Munitionslager unberührt ließ. Und wieder
wurde mit der Zivilbevölkerung abgerechnet. Die wenig effektive Taktik
der >kleinen Stiche< der Partisanen in der unmittelbaren Nähe von
Ortschaften wurde mit viel Blut von alten Menschen Frauen und Kindern
bezahlt.31
Andererseits kommt Hannes Heer in seiner Analyse deutscher, russischer
und weißrussischer Archivdokumente zu dem Schluß, daß der Terror in
Weißrußland 1941/1942, als es noch keine Massenbewegung der Partisanen
gab, eskalierte^ unter dem Deckmantel von Strafaktionen gegen Banditen
wurden »Zehntausende von Zivilisten gejagt, gefangengenommen und
erschossen«. In offiziellen Dokumenten der Wehrmacht war von der
»Zerstörung von Partisanenlagern und -unterständen« die Rede; auf diese
Weise wurde die >Fiktion eines Krieges< erzeugt, »der ein Maximum an
Möglichkeiten bot, zu töten und die Wahrscheinlichkeit, getötet zu
werden, auf ein Minimum reduzierte«.32
Mißhandlungen und Ausraubung von Zivilisten gehörten zu den
verbreitetsten Verbrechen der Wehrmacht und waren überall anzutreffen.
Nicht ohne Grund wurden die Soldaten der Fronttruppe als »Raubsoldaten
der deutschen Armee« bezeichnet. In den Dokumenten finden sich unzählige
Belege für unterschiedlichste Raubdelikte. In einer Akte des
Volkskommissariats für Gesundheitswesen vom Januar 1942 ist vermerkt,
daß deutsche Soldaten die Dorfbewohner von Panowo, Bezirk Malojaroslaw,
während ihrer vierzigtägigen Okkupation (14. November bis 24. Dezember
1941) äußerst grob und brutal behandelt hätten. Vom 6. bis 18. Dezember
vertrieben sie die Einwohner von Panowo und Kulikowo aus ihren Häusern
und trieben sie in Gruppen von jeweils 40-50 Personen in Dampfbäder oder
winzige baufällige Hütten. Jeden Morgen und jeden Abend wurden die
Erwachsenen nach draußen gejagt, um die Wege von Schnee freizuräumen.
Die Soldaten demonstrierten mit ihrem Verhalten, daß sie Russen nicht
als Menschen ansahen. Wir lesen in der Akte:
Der deutsche Soldat geniert sich nicht, sich in Gegenwart der Frauen
und Kolchosbauern die Hosen auszuziehen und nach Läusen zu suchen.
Nachdem er sich seiner Wäsche entledigt hat, bleibt er häufig nackt in
der Hütte stehen und zwingt die Frauen, seine Wäsche zu waschen. Ihre
Toilette verrichten sie auf der Treppe unter dem Fenster vor den Augen
von Frauen, jungen Mädchen und Kindern. Einmal ist ein Kind, das 1 Jahr
und acht Monate alt war, vom Ofen weggelaufen und hat auf dem Boden
gespielt. Ein deutscher Soldat ließ das Kind mit Absicht fallen und trat
ihm auf die Beine, als wollte
31 Vgl. ausführlicher CA MO, f. 229, op. 213, d. 41, Bl.
233; V. A. PEREZOGIN: Partizany i naselenie (1941-1943) (Partisanen und
Bevölkerung. 1941-1945). In: Otecestvennaja istorija 1997, Nr. 6, S.
150-153.
32 HANNES HEER: DieLogikdes Vernichtungskrieges.
Wehrmacht und Partisanenkampf. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 8), S.
104-138, hier S. 108-109, 120.
er damit demonstrieren, daß ein russisches Kind für ihn ein
»Schweinchen« ist, wie die deutschen Soldaten die russischen Kinder
nennen ...33
Heinrich Krause, ein Soldat der 9. Kompanie des 377.
Infanterie-Regiments der 225. Infanteriedivision, berichtet beim Verhör:
Ich wohnte in Sennaja Kerest, Haus 120. Vor einer Woche fand in dem
Dorf eine Zwangseintreibung warmer Sachen statt. Jedes Haus sollte ein
Paar Filzstiefel abgeben. Im Haus 120 wohnte eine zehnköpfige Familie,
die ihre Filzstiefel schon abgeliefert hatte, die Frau des Hauses hatte
auch eine Quittung darüber erhalten. Eines Tages kamen zwei
Unteroffiziere ins Haus und verlangten ein weiteres Paar Filzstiefel.
Die Frau sagte, daß sie keine Filzstiefel mehr hätten und zeigte ihnen
die Quittung, doch sie ignorierten dies und begannen, sie zu schlagen.
Ich war darüber sehr empört, konnte sie aber nicht in Schutz nehmen,
weil ich sonst am nächsten Tag wegen Unterstützung der Bevölkerung
erschossen worden wäre.34
Der bereits zitierte Obergefreite Arno Schwager sagte bei seiner
Vernehmung aus, daß seine Division im September 1942 in Nikolskoje bei
Kursk eine Rast einlegte. Vom Standort der Division wurden
Requirierungstrupps in die umliegenden Dörfer geschickt, welche der
Bevölkerung Kühe, Kälber, Schafe, Hühner und Honig abnehmen sollten.
Die Bewohner weinten und flehten, Frauen und Kinder fielen vor den
Soldaten auf die Knie. Die Soldaten schlugen sie mit Gewehrkolben und
traten sie mit Füßen. Im Dorf Woltschanka habe ich selbst gesehen, wie
ein Soldat so lange auf eine Frau einprügelte, bis sie das Bewußtsein
verlor. Ohne sie weiter zu beachten, führte er ihre letzte Kuh fort,
obwohl sechs Kinder zurückblieben, die dem Hungertod geweiht waren.35
Schwager erwähnt in seiner Aussage noch ein weiteres schreckliches
Verbrechen der Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, nämlich die
Massenvergewaltigungen. Unter anderem gibt er den Bericht des Gefreiten
Steiger aus seiner Panzerdivision wieder. Steiger hatte im Februar 1942
in einem Dorf 30 km westlich von Semljansk, Gebiet Kursk, ein 13jähriges
Mädchen zuerst vergewaltigt und dann erwürgt.36 Schwager selbst war
Zeuge einer anderen Szene in Kursk:
Ich stand von 6 bis 8 Uhr Posten. Gegenüber meines Wachpostens lebte
der hochrangige Militärbeamte Behner. Um 6.15 Uhr waren aus seiner
Wohnung plötzlich Schreie und Geschimpfe zu hören. Als ich mit dem
Gewehr in den Raum trat, sah ich, wie der Offizier mit einer
Reitpeitsche auf ein 13-14jähriges Mädchen einschlug, das halbnackt auf
einem Tisch festgebunden war.37
33 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 5
34 Meldung der 7. Abteilung der Politverwaltung der
Volchover Front an die Politische Hauptverwaltung der RKKA. RGASPI, f.
17, op. 125, d. 97, Bl. 15-16.
35 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 91, Bl. 180-181.
36 EBD., Bl. 182.
37 EBD, Bl. 183.
In den Städten Narwa und Kingisepp richteten die Deutschen Bordelle für
die Wehrmachtsoffiziere ein. In diese Häuser wurden die Mädchen und
Frauen aus den Dörfern gebracht. Wer sich weigerte, im Bordell zu
bleiben, wurde erschossen. In der Note des Volkskommissariats für
Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942 wird der
Aufenthalt deutscher Soldaten und Offiziere im Dorf Basmanowo, Bezirk
Glinkow, Gebiet Smolensk, folgendermaßen beschrieben:
Gleich am ersten Tag trieben die faschistischen Scheusale mehr als 200
Schüler und Schülerinnen, die zur Einbringung der Ernte eingetroffen
waren, auf dem Feld zusammen. Die Kinder wurden umzingelt und
bestialisch niedergeschossen. Eine größere Gruppe von Schülerinnen wurde
von den Hitler-Faschisten für die Herren Offiziere ins Hinterland
gebracht.
Weiter heißt es in dem Bericht: »In dem ukrainischen Dorf Borodajewka
im Bezirk Dnjepropetrowsk vergewaltigten Deutsche alle Frauen und
Mädchen.«
m dem Dorf Berjosowka im Gebiet Smolensk vergewaltigten und
verschleppten betrunkene deutsche Soldaten alle Frauen und jungen
Mädchen im Alter von 16 bis 30 Jahren.
hi der Stadt Smolensk eröffnete das deutsche Kommando in einem der
Hotels ein Offiziersbordell, in das Hunderte von Mädchen und Frauen
geschleppt wurm Weißrußland, nahe der Stadt Borissow, fielen den
Hitlerfaschisten 75 Frauen und Mädchen in die Hände, die beim Anmarsch
der deutschen Truppen geflohen waren. 36 Frauen und Mädchen wurden von
den Deutschen vergewaltigt und darauf bestialisch ermordet.
Das 16jährige Mädchen L. I. Meltschukowa führten die Soldaten auf
Befehl des deutschen Offiziers Hummer in den Wald, wo sie es
vergewaltigten. Nach einiger Zeit sahen andere Frauen, die ebenfalls in
den Wald geführt worden waren, daß bei den Bäumen Bretter standen, an
denen die sterbende Meltschukowa aufgespießt war. Die Deutschen haben
ihr vor den Augen der anderen Frauen, unter ihnen W. I. Alperenko und W.
M. Beresnikowa, die Brüste abgeschnitten.38
Außerdem führte die Wehrmacht eine regelrechte Jagd auf Menschen durch,
die als Sklaven für die deutsche Industrie eingesetzt wurden. 1941 ging
die Berliner Regierung noch davon aus, daß sich die erforderliche Zahl
von Arbeitskräften aus den besetzten sowjetischen Gebieten ohne
besondere Anstrengungen und Zugeständnisse, notfalls mit Gewalt,
rekrutieren lassen würde. Die Menschen, die im Winter 1941/42 noch mehr
oder weniger freiwillig nach Deutschland kamen, äußerten sich in ihren
Briefen jedoch so negativ über ihr Leben im »Reich«, daß die Stimmung
der Bevölkerung der besetzten Gebiete bald umschlug. Die nachlassende
Loyalität der Bevölkerung führte zu rigorosen Zwangsmaßnahmen der
deutschen
Behörden. Auf Bahnhöfen, Plätzen und Märkten wurden Razzien
veranstaltet. In einem Bericht über die Ergebnisse geheimer
Briefkontrollen heißt es:
Besonders hart wird empfunden, daß durch die Zwangswerbungen Mütter von
ihren kleinen Kindern und Schulkinder von der Familie getrennt werden.
Die Betroffenen suchen sich mit allen Mitteln dem Abtransport nach
Deutschland zu entziehen [...] Das hat wiederum eine Verstärkung der
deutschen Gegenmaßnahmen zur Folge; als solche werden erwähnt:
Beschlagnahmung des Getreides und des Eigentums, Inbrandsetzung des
Hauses, gewaltsames Zusammentreiben, Fesselung und Mißhandlung,
Zwangsaborte von schwangeren Frauen.39
Obgleich die Zahl der sogenannten Anwerbekommissionen stieg und die
Propaganda für den Arbeitseinsatz im »Reich« verstärkt wurde, blieb die
gewünschte Wirkung aus. In dieser Phase wurde die Wehrmacht zur
Zwangsrekrutierung eingesetzt. So heißt es im Befehl des 29. Armeekorps
vom 24. Januar 1943:
Alle Männer und Frauen von 16 bis 60 Jahren sind zu erfassen, in
Arbeitskommandos einzuteilen [...] Wer sich weigert oder die Arbeit
sabotiert, ist zu erhängen.40
Nach Angaben des Hamburger Historikers Rolf-Dieter Müller wurden 1943
etwa eine Million Sowjetbürger als Zwangsarbeiter nach Deutschland
transportiert. Von den ursprünglich fünf Millionen russischer,
ukrainischer und weißrussischer Zwangsarbeiter standen im Herbst 1944
nur noch 726000 für den Arbeitseinsatz zur Verfügung.41
Auch die deutsche Zivilbevölkerung hatte am Ende des Krieges unter der
Zersetzung der Wehrmacht zu leiden. Im Januar 1945 schrieb ein deutscher
Offizier folgenden Brief an Goebbels, der allerdings nicht abgeschickt
wurde:
Wir erleben hier in der kleinen Stadt Hustadt ein entsetzliches Chaos,
wie man es sich schlimmer nicht vorstellen kann [...] Die
Truppeneinheiten, die hier ohne Kommandeure durchziehen, haben die
Bevölkerung ausgeraubt, sich Zivil angezogen und ihre Uniformen auf die
Straßen geworfen. Überall liegen Papiere, Revolvertaschen und Helme
herum, die Soldaten werfen alles weg, was sie daran erinnern könnte, daß
sie Soldaten sind [...] Auf den Straßen liegen lauter Uniformstücke,
Pferdekadaver und gestohlene Lebensmittel, die sie in dieser großen
Menge nicht mitnehmen können [...] Ihr treuer Parteigenosse Hilli.42
39 ALEXANDER DALLIN: Deutsche Herrschaft in Rußland
1941-1945. Düsseldorf 1958, S. 448.
ROLF-DIETER MÜLLER: Menschenjagd. Die Rekrutierung von
Zwangsarbeitern in der besetzten Sowjetunion. In: Vernichtungskrieg (wie
Anm. 8), S. 92-101, hier S. 99.
41 MÜLLER: Menschenjagd (ebd.), S. 101. Vgl. ebenso:
R.-D. MJULLER: Nasü'stvennoe rekrutirovanie »vostocnych mbocich« (Die
Zwangsrekrutierung von Ostarbeitern). 1941-1944. In: Vtoraja mirovaja
vojna: Diskussii. Osnovnye tendencii. Rezul'taty issledovanij. Moskau
1997, S. 609-618.
42 Aus den Beutedokumenten: Brief an Goebbels, der am 1.
Februar 1945 in Hustadt bei einem getöteten Offizier gefunden und der 7.
Abteilung der Politischen Verwaltung der 2. Weißrussischen Front
übergeben wurde. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 322, Bl. 12 (Rückübersetzung
aus dem Russischen). Eine Reihe deutschsprachiger Dokumente (siehe auch
weiter unten) mußte beim vorliegenden Beitrag aus der im RGASPI nur
zugänglichen russischen Übertragung ins Deutsche rückübersetzt werden.
Die deutschen Originale liegen im Razved Upravlenija General'nogo staba
(Aufklärung der Leitung des
Der Befehlshaber der 2. Deutschen Armee Oberst Weiß mußte am 3. Februar
des gleichen Jahres ebenfalls zugeben, daß sich im rückwärtigen Gebiet
»kleine Gruppen von Feiglingen und Deserteuren herumtreiben«, »die
verräterisch denken und handeln«43.
Die Bestimmungen von Artikel 6 des Statuts des Internationalen
Militärtribunals werden in der Regel nur auf die besiegten Deutschen
angewendet. Dies bedeutet jedoch nicht, daß nicht auch die Handlungen
der Soldaten und Offiziere der Roten Armee aus der Sicht der
Bestimmungen dieses Artikels betrachtet werden können. Zwar wurde 1945
im besiegten Deutschland keine Kommission eingerichtet, die Akten über
die Verbrechen der sowjetischen Militärangehörigen anlegten; den Organen
der Militärstaatsanwaltschaft sowie auch hohen und einfachen Rote
Armee-Führern ist jedoch zugute zu halten, daß sie das Ausmaß und die
Arten der Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung und sogar an den
nach Deutschland zwangsverschleppten Landsleuten in ihren Berichten und
anderen Aussagen ehrlich, wenn auch in entsprechender ideologischer
Diktion, darstellten. Besonders verbreitet waren sinnlose Erschießungen
und Ermordungen, Vergewaltigungen und Plünderungen von Zivilisten.
Meldungen hierüber gelangten ab Februar 1945 regelmäßig nach Moskau, und
wenn der Charakter der sogenannten »Vorkommnisse« und »Exzesse« hierin
auch verharmlost wurde, war dennoch offensichtlich, welche schrecklichen
Ereignisse sich kurz vor Kriegsende abspielten.
So berichtet Emma Korn den NKWD-Vertretern bei der Samlander Gruppe der
Streitkräfte:
Vor ihrem Abzug schlug uns das Kommando der deutschen Armee vor, uns in
die Stadt Königsberg evakuieren zu lassen, und kündigte an, daß die
»roten Asiaten« unerhörte Greueltaten an der deutschen Bevölkerung
verüben würden. Auf Rat der deutschen Soldaten ließen wir uns nicht
evakuieren und blieben in Spaleiten. Am 3. Februar zogen die ersten
Einheiten der Roten Armee in die Stadt ein. Sie kamen in den Keller, wo
wir uns versteckt hatten, und führten mich und zwei weitere Frauen mit
vorgehaltener Waffe in den Hof. Dort wurde ich von zwölf Soldaten
nacheinander vergewaltigt. Andere taten meinen beiden Nachbarinnen das
Gleiche an [...] In der nächsten Nacht drangen sechs betrunkene Soldaten
in unseren Keller ein und vergewaltigten uns vor unseren Kindern. Am 5.
Februar kamen drei Soldaten, am 6. Februar acht betrunkene Soldaten, die
uns ebenfalls vergewaltigten und schlugen. Unter dem Einfluß der
deutschen Propaganda, daß die Rote Armee die Deutschen mißhandelt, und
nachdem wir gesehen hatten, daß die Rote Armee uns wirklich mißhandelt,
beschlossen wir, uns das Leben zu nehmen,
Generalstabs) und sind dort - wie auch deutsche Dokumente im russischen
Verteidigungsmimstenum - für die Forschung nicht zugänglich. Anm. d.
Red.
43 Aus einem Befehl des Kommandierenden der 2. Deutschen
Armee vom 3. Februar 1945. RGASPI, f. 17, op, 125, d. 322, Bl. 25-26;
Rückübers. aus dem Russischen.
-weshalb wir uns und unseren Kindern am 8. Februar die Handgelenke und
Pulsadern der rechten Hand aufschnitten [.. .].44
Der Kommissar für Staatssicherheit Tkatschenko teilte dem
Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Lawrentij P. Berija mit:
Nach Aussage vieler Deutsche wurden in Ostpreußen alle deutschen
Frauen, die im rückwärtigen Heeresgebiet der Roten Armee verblieben
waren, von den Soldaten der Roten Armee vergewaltigt. Wilhelm
Schedereiter aus der Stadt Granz meldete der Filtrationsstelle, daß am
12. Februar mehrere Armeeangehörige in seine Wohnung eindrangen und alle
Frauen, minderjährigen Mädchen und alten Frauen vergewaltigten. Seine
mehrfach vergewaltigte Tochter Gertrude erklärte, daß die im
rückwärtigen Heeresgebiet der Roten Armee verbliebenen Deutschen Hunger,
Epidemien und Repressionen der in Kürze eintreffenden NKWD-Truppen
erwarten.45
Schätzungen der beiden größten Berliner Krankenhäuser reichen von 95
000 bis 130 000 Vergewaltigungsopfern. Ein Arzt vermerkt, daß von den
100 000 vergewaltigten Frauen in Berlin etwa 10 000 verstarben, die
meisten von ihnen begingen Selbstmord. Noch höher lag die Todesrate bei
den 1,4 Millionen vergewaltigten Frauen in Ostpreußen, Pommern und
Schlesien.46 Der englische Schriftsteller An-tony Beevor, der diese
Zahlen und weitere Fakten anführt, resümiert:
Das Bild von sowjetischen Soldaten, die zusammengekauerten Frauen in
den Bunkern mit ihren Taschenlampen ins Gesicht leuchten, um ihre Opfer
auszuwählen, scheint auf alle sowjetischen Armeen zuzutreffen, die an
der Schlacht um Berlin beteiligt waren.47
Zahlreiche Angaben zu den Verbrechen der Roten Armee finden sich auch
in den Büchern des amerikanischen Flistorikers Norman Naimark.48
Weniger bekannt ist dagegen, daß sich die sowjetischen Soldaten und
Offiziere auch an russischen, ukrainischen und weißrussischen Frauen und
Mädchen vergingen, die aus deutschen Konzentrationslagern befreit worden
waren. Die meisten von ihnen waren im Alter von 14 bis 16 Jahren nach
Deutschland zwangsverschleppt worden. Auch viele Menschen aus Westeuropa
waren hiervon betroffen. Im April 1945 legte Generaloberst F. Golikow,
der Beauftragte der Regierung der UdSSR für die Repatriierung
sowjetischer Bürger, Malenkow einen schriftlichen Bericht über die
Verbrechen der Samlander Gruppe der Streitkräfte in Ostpreußen vor.
44 Zitiert nach E. ZIROVA: »Casi naselenija koncaet
iizn'samoubijstvom«. Donesenija Stalinskick specsluzb (»Ein Teil der
Bevölkerung beendet ihr Leben mit Selbstmord«. Meldungen der Stalinschen
Sonderdienste). In: Vlast' 2000, Nr. 6, S. 45-47; Rückübersetzung aus
dem Russischen.
45 EBD., S. 46.
46 ANTONY BEEVOR: Berlin. The downfall, 1945. London
2002, S. 410; deutsch zitiert nach DERS.: Berlin 194}. Das Ende. München
2002, S. 445.
47 EBD., S. 326; dt. S. 356.
48 Vgl. NORMAN M. NAIMARK: Die Russen in Deutschland.
Die sowjetische Besatzungszone 194} bis 1949. München 2000.
Am 4. Februar entdeckten Major Sljuntjajew, der Vertreter des
Kommandeurs der 192. Schützendivision des 298. Artillerieregiments, und
Major Mubarakow, der Kommandeur einer Abteilung dieses Regiments, bei
der Standortauswahl für den Gefechtsstand der Abteilung in der Baracke
eines Herrenhauses acht Männer und eine Frau. Die Frau die gut Russisch
konnte, gab an, daß sie Lettin ist und von den Deutschen aus Riga
zwangsverschleppt wurde und daß die Männer Franzosen seien. Am Abend
veranstalteten Sljuntjajew und Mubarakow ein Trinkgelage und luden sie
zu sich in den Unterstand ein. Der angetrunkene Major Sljuntjajew nahm
sich die Rotarmisten Tschawkin und Romanow zur Hilfe, unterzog die
Franzosen einer Leibesvisitation, beschlagnahmte ihre Wertgegenstände
und befahl, sie zu erschießen. Die Rotarmisten eröffneten das Feuer aus
Maschinengewehren und Sljuntjajew aus einer Pistole. Als sie in den
Unterstand zurückkamen, vergewaltigten die genannten Militärangehörigen
nacheinander die Lettin. Am 5. Februar wurden in der Baracke die Leichen
von drei Franzosen entdeckt, die übrigen fünf waren offensichtlich mit
dem Leben davongekommen und untergetaucht. Da Major Mubarakow
befürchtete, daß die Frau über den Vorfall Meldung erstatten würde,
befahl er, auch sie zu erschießen, die Erschießung führte der Rotarmist
Tschawkin
aus.49
Auch der Sekretär des Leninschen Kommunistischen Jugendverbands N.
Michaj-low geht in seinem Bericht an Georgij Malenkow vom 29. März 1945
auf das Thema Vergewaltigungen ein.
In einem Wohnheim in Bunzlau (heute Boleslawiec, Polen - d. Red.), in
dem mehr als hundert befreite Frauen und junge Mädchen leben, »kommt es
immer wieder zu Belästigungen, Erniedrigungen und sogar Vergewaltigungen
durch einzelne Militärangehörige, die vorwiegend nachts in das Wohnheim
eindringen und die hier lebenden Mädchen und Frauen buchstäblich
terrorisieren.« Am 5. März hielten sich spät abends an die 60
Armeeangehörige, hauptsächlich aus der 3. Gardepanzerarmee, in dem
Wohnheim auf. Sie waren fast alle betrunken und bedrängten und
erniedrigten die Mädchen. Obgleich der Kommandant sie kategorisch
aufforderte, das Wohnheim zu verlassen, setzten die Panzersoldaten ihre
Randale fort, bedrohten die Frauen mit Waffen und zettelten eine
Schlägerei an. Die von dem Kommandanten geschickte Streife nahm keinen
der Rowdies fest. Erst am Morgen wurde im Wohnheim ein volltrunkener
Panzersoldat entdeckt, dem in der Nacht Uniform und Pistole gestohlen
worden waren. Die Mädchen gaben an, daß sich »diese Vorkommnisse Nacht
für Nacht wiederholen«. Noch »verheerendere und empörendere« Vorfälle
tragen sich in der Militärkommandatur der Stadt Eis zu. Hier betrachtet
der Politstellvertreter des Kommandanten Kapitän Balajan die »befreiten
Mädchen und Frauen als >Menschen zweiter Klasse«. Er erklärte
beispielsweise: »Sollen sie doch machen, was sie wollen, und schlafen,
mit wem sie wollen, wenn hierdurch nur kein Aufsehen erregt wird.« In
der Nacht vom 23. zum 24. Februar kam eine Gruppe betrunkener Offiziere
und Offizierschüler in das Vorwerk Grutenberg und begann dort zu
randalieren und sich an den dort anwesenden Frauen und Mädchen zu
vergehen. In der Nacht vom 14. zum 15. Februar tauchte in einem Vorwerk,
in dem Viehzucht betrieben wurde (Leiter dieses
49 Schriftlicher Bericht von Generaloberst F. Golikow,
Beauftragter des Rates der Volkskommissare der UdSSR über die
Repatriierung von Bürgern der UdSSR an G. M. Malenkow vom 3. April 1945.
RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.
Vorwerks war Kapitän Karimow) eine Strafkompanie unter Leitung von
Oberleutnant (Name wird nicht genannt) auf, umzingelte das Vorwerk,
stellte Maschinengewehre auf und beschoß und verwundete einen
Rotarmisten, der das Wohnheim bewachte. Anschließend wurden systematisch
alle befreiten Frauen und Mädchen, die sich in dem Vorwerk aufhielten,
vergewaltigt.50
Wie kam es zu dieser in der Geschichte der Kriege beispiellosen Haltung
der Soldaten und Offiziere der Wehrmacht wie der Roten Armee gegenüber
der Zivilbevölkerung?
RECHTFERTIGUNGSGRUNDLAGE FÜR DIE
VERBRECHEN DER WEHRMACHT
Am 30. März 1941, d.h. zweieinhalb Monate vor Beginn des Unternehmens
»Barbarossa«, hielt Hitler vor 250 Generälen und Truppenbefehlshabern
eine Geheimrede, in der er seine rassenideologischen Ansichten und Pläne
für einen Angriffskrieg darlegte. Hierin bezeichnete er den
Bolschewismus als »asoziales Verbrechertum« und kündigte einen
»Vernichtungskampf« an, bei dem jegliche Formen des »soldatischen
Kameradentums mit dem Feind« untersagt seien. Der Krieg im Osten solle
sich »in allem vom Kampf im Westen unterscheiden«: Anvisiert sei die
»Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen
Intelligenz«.51
Während des Nürnberger Prozesses legte Oberst Taylor (USA) erstmals den
vom Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Keitel,
unterzeichneten Hitlererlaß »Über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit
im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppen« vom 13.
Mai 1941 sowie die »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Rußland«
vom 19. Mai 1941 vor, worin den deutschen Soldaten Straffreiheit für ihr
schonungsloses Vorgehen bei der Durchführung des Unternehmens
»Barbarossa« zugesichert wurde. Besonders aufschlußreich sind folgende
Punkte des Befehls:
II1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges
gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang,
auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder
Vergehen ist.
50 EBD., Bl. 40-43.
51 Auszug aus Hitlers Ausführungen vom 30. März 1941
nach den Aufzeichnungen von Generaloberst Halder. Zitiert nach:
UEBERSCHÄR/WETTE: »Unternehmen Barbarossa" (wie Anm. 13), S.248f.; vgl.
auch JÜRGEN FÖRSTER: Das Unternehmen«Barbarossa«. In: Das Deutsche Reich
und der Zweite Weltkrieg. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen
Forschungsamt, Bd. 4: Der Angriff auf die Sowjetunion, Stuttgart 1983,
S. 413-447.
3. [...] Der Gerichtsherr ordnet die Verfolgung von Taten gegen
Landeseinwohner im kriegsgerichtlichen Verfahren nur dann an, wenn es
die Aufrechterhaltung der Manneszucht oder die Sicherung der Truppe
erfordert.52
Bereits Anfang Mai 1941, also noch vor Erlaß dieser Direktiven,
bereitete das Kommando der Landstreitkräfte einen Entwurf entsprechender
Verfügungen vor. Hierin wird die Außerkraftsetzung jeglicher Normen und
Regeln der Kriegführung damit begründet, daß den Truppen in der UdSSR
angeblich ein »besonders gefährliches und ordnungszersetzendes Element
aus der Zivilbevölkerung« gegenüberstehe, »das Träger der
jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung ist«. In dem Dokument wird
hervorgehoben:
Es besteht kein Zweifel daran, daß es seine zersetzenden Waffen gegen
die Kampfhandlungen der Wehrmacht bei der Befriedigung des Landes
überall dort hinterlistig und heimtückisch einsetzen wird, wo es nur
kann.53
In einer Verfügung zum Umgang mit den Geheimmaterialien vom 27. Juli
1941 wies Keitel die Frontstäbe an, sämtliche Kopien des Führerbefehls
vom 13. Mai zu vernichten. Trotz dieser Anweisung blieb der Befehl
selbst jedoch in Kraft.
Erwähnenswert ist noch die »Ergänzung zur Weisung 33« von Alfred Jodl,
die am 23. Juli 1941, d.h. einen Monat nach Kriegsbeginn, von Keitel
unterzeichnet wurde:
Die zur Sicherung der eroberten Ostgebiete zur Verfügung stehenden
Truppen reichen bei der Weite dieser Räume nur dann aus, wenn alle
Widerstände nicht durch die juristische Bestrafung der Schuldigen
geahndet werden, sondern wenn die Besatzungsmacht denjenigen Schrecken
verbreitet, der allein geeignet ist, der Bevölkerung jede Lust zur
Widersetzlichkeit zu nehmen. [...] Nicht in der Anforderung weiterer
Sicherheitskräfte, sondern in der Anwendung drakonischer Maßnahmen
müssen die entsprechenden Befehlshaber das Mittel finden, um ihre
Sicherungsräume in Ordnung zu halten.54
Nach Auffassung von Manfred Messerschmidt wurde der »Sinn des Krieges
und das geforderte soldatische Verhalten« insbesondere durch die Befehle
der beiden Armeeoberbefehlshaber v. Reichenau und v. Manstein
erläutert.55 Am 10. Juli 1941 unterzeichnete der Oberbefehlshaber der 6.
Armee von Reichenau den Befehl »Über die Behandlung des Gegners«:
52 EBD., S. 252.
53 Zitiert nach D. AJCHCHOL'C: Celi Germanii v
vojneprotiv SSSR. In: Novaja i novejsaja istorija 2002, Nr. 6, S. 86;
deutsch Der Fall Barbarossa. Dokumente zur Vorbereitung der
faschistischen Wehrmacht auf die Aggression gegen die Sowjetunion
(1940-1941). Ausgewählt und eingeleitet von Erhard Moritz. Berlin (Ost)
1970, Dokument 93, S. 308. Erlaßentwurf des Oberbefehlshabers des
Heeres, Anfang Mai 1941.
54 Ergänzung zur Weisung Nr. 33 vom 23. Juli 1941,
abgedruckt in WALTHER HUBATSCH (Hrsg.): Hitlers Weisungen für die
Kriegsführung. 1939-1945. Dokumente des Oberkommandos der Wehrmacht.
Frankfurt a.M. 1962, S. 144.
55 MANFRED MESSERSCHMIDT: Der Kampf der Wehrmacht im
Osten als Traditionsproblem. In: Ueberschär/Wette: »Unternehmen
Barbarossa« (wie Anm. 13), S. 225-237; hier S. 225.
Soldaten in Zivil, meist schon erkenntlich an kurz geschnittenem Haar,
sind nach Feststellung, daß sie rote Soldaten sind, zu erschießen.
Das Gleiche galt für Zivilisten,
welche in Haltung oder Handlung sich feindlich einstellten,
insbesondere die Rote Armee unterstützen.
Ein Befehl vom 19. Juli des gleichen Jahres schrieb vor, Häuser von
Russen und Juden abzubrennen,
und am 10. Oktober verlangte der Oberbefehlshaber »drakonische
Maßnahmen«, um »das deutsche Volk von der asiatisch-jüdischen Gefahr«
ein für allemal zu befreien.56
General Hermann Hoth hob in einem Armeebefehl vom 17. November 1941
hervor, daß im Kampf gegen die Russen »Versöhnung ausgeschlossen ist«,
denn
Mitleid und Weichheit gegenüber der Bevölkerung ist völlig fehl am
Platz [...] Jede Spur aktiven oder passiven Widerstandes oder
irgendwelcher Machenschaften bolschewistischjüdischer Hetzer ist sofort
erbarmungslos auszurotten. Die Notwendigkeit harter Maßnahmen gegen
volks- und artfremde Elemente muß gerade von den Soldaten verstanden
werden.57
Die Ermordung von Frauen und Kindern wurde vom Oberkommando der
Wehrmacht nicht nur nicht verhindert, sondern direkt vorgeschrieben. In
einigen Dokumenten ist die organisierte Ermordung von Kindern als
Kampfmaßnahme gegen die Partisanenbewegung dargestellt. So wird im
Befehl des Kommandeurs der 254. Division Generalleutnant von Behschnitt
vom 2. Dezember 1941 die Tatsache, daß sich alte Leute, Frauen und
Kinder jeden Alters »hinter den deutschen Linien bewegen«, als
»fahrlässiger Leichtsinn« bezeichnet und die Anordnung getroffen,
ohne Vorwarnung auf alle Zivilisten, gleich welchen Alters und
Geschlechts, zu schießen, die sich der Frontlinie nähern.
Ebenso sollen
die Bürgermeister dafür verantwortlich gemacht werden, daß dem
örtlichen Kommandanten fremde Personen, insbesondere Kinder,
unverzüglich gemeldet werden
und
jede spionageverdächtige Person unverzüglich erschossen wird.58
Die Historiker Bernd Boll und Hans Safrian, die den Weg der 6. Armee
von Stryj bis an die Wolga nachzeichnen, konstatieren:
56 Zitiert nach BERND BOLL/HANS SAFRIAN: Auf dem Weg nach
Stalingrad. Die 6. Armee 1941/42. In: Vernichtungskrieg (wie Anm. 8), S.
260-296; hier S. 268, 283. Der Reichenau-Befehl auch in
UEBER-SCHÄR/WETTE: »Unternehmen Barbarossa" (wie Anm. 13), S. 285f.
57 Zitiert nach UEBERSCHÄR/WETTE: »Unternehmen
Barbarossa« (ebd.), S. 288.
58 EBD.
Weder ethnische Zugehörigkeit noch politische Überzeugung, weder
angstvolle Passivität noch aktive Kollaboration konnte die
Zivilbevölkerung davor bewahren, jederzeit nach der taktischen Lage zum
Objekt von Repressalien zu werden. Sie war in ihrer Gesamtheit zur
Geisel der Wehrmacht geworden.59
Allerdings blieb es nicht bei diesen Befehlen. Bereits im Dezember 1941
war nicht mehr zu übersehen, daß der »Blitzkrieg« gescheitert war, die
Angriffsoperationen auf Moskau wurden unterbrochen. Einige
Militärhistoriker wie z.B. Omar Bartow vertreten die Ansicht, daß sich
der Charakter der militärischen Handlungen von dieser Zeit an
veränderte.
Es war genau zu diesem Zeitpunkt, daß sich die Wehrmacht mitten in
einem Wandlungsprozeß befand und von einer hochentwickelten,
technologisch ausgerichteten »Blitzkriegs-Armee« zu einem fanatischen,
irrationalen, ideologisch motivierten Werkzeug eines verbrecherischen
Regimes wurde.60
Die Tatsache, daß der Krieg Ende 1941 in eine neue Phase trat, ist
unbestreitbar. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er und das Vorgehen der
Wehrmacht zuvor nicht als barbarisch zu bezeichnen gewesen wären. 1942
unterstrich die nationalsozialistische Führung in einer rigorosen
Direktive, die keine Ausnahmen zuließ, erneut, daß die Verbrechen der
Militärangehörigen an der Zivilbevölkerung nicht strafrechtlich verfolgt
werden. In der am 16. Dezember 1942 von Keitel unterzeichneten Weisung
zur Bandenbekämpfung heißt es:
Dem Führer liegen Meldungen vor, daß einzelne in der Bandenbekämpfung
eingesetzte Angehörige der Wehrmacht wegen ihres Verhaltens im Kampf
nachträglich zur Rechenschaft gezogen worden sind. Der Führer hat hierzu
befohlen: »Wenn dieser Kampf gegen die Banden [...] im Osten [...] nicht
mit den allerbrutalsten Mitteln geführt wird, so reichen in absehbarer
Zeit die verfügbaren Kräfte nicht mehr aus, um dieser Pest Herr zu
werden. Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem
Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel
anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt.«61
Wolfram Wette befaßt sich mit der Frage, ob die Befehle der Generäle
auch den einfachen Soldaten, den »kleinen Mann in Uniform« erreichten.
Woran glaubte der »kleine Mann«?
Als Bürger des NS-Staates hatten Angehörige der Wehrmacht seit den 30er
Jahren Anteil an der täglichen propagandistischen Berieselung. Mit dem
Beginn des Rußlandkrieges nahm die Sprache der Propaganda hinsichtlich
der Juden immer aggressivere Züge an. Vom »jüdischen Weltfeind« war nun
die Rede, der »vernichtet« werden müsse. Mehrfach wiederholte Hitler
seine absurde Behauptung,
59 BOLL/SAFRIAN: Auf dem Weg nach Stalingrad (wie Anm.
56), S. 289.
60 OMAR BARTOV: Brutalität und Mentalität. Zum Verhalten
deutscher Soldaten an der »Ostfront*. In: PETER JAHN/REINHARD RÜRUP:
Erobern und Vernichten. Der Krieg gegen die Sowjetunion 1941-1945.
Berlin 1991, S. 183-189; hier S. 187.
61 NP, russ. Bd. 5, S. 117; dt. Bd. 7, S. 538.
die Juden seien die Urheber des Krieges gegen das Reich. Ebenso ging die
Propaganda daran, das in Deutschland ohnehin seit langem vorhandene
Überlegenheits-gefiihl gegenüber den slawischen Ostvölkern rassistisch
zu begründen und damit zu verstärken.62
Der ideologischen Beeinflussung der Wehrmacht dienten auch die von
deren Oberkommando, Abteilung Wehrmachtpropaganda, herausgegebenen
Pressematerialien. Vom Inhalt dieser Informationsblätter wurden die
Soldaten aller Kompanien in Kenntnis gesetzt. Die kurz nach dem Überfall
auf die UdSSR erschienene Ausgabe enthält folgende Passage:
Es geht darum, das rote Untermenschentum, welches in den Moskauer
Machthabern verkörpert ist, auszulöschen. Das deutsche Volk steht vor
der größten Aufgabe seiner Geschichte. Die Welt wird erleben, daß diese
Aufgabe restlos gelöst wird.63
Im Juni/Juli 1941 präsentierte die nationalsozialistische Propaganda
»dem deutschen Leser und Hörer ein Bild des Sowjetstaates, das von
pervertierter Roheit und Brutalität strotzte und jede nüchterne
Betrachtung ausschloß. Der Informationsdienst des Propagandaministeriums
hatte sämtliches Material über die Verbrechen und Vergehen des
Sowjetkommunismus - Verfolgung der Geistlichkeit, der Intellektuellen,
die verschiedenen Säuberungsaktionen der Partei, der Armee, Tätigkeit
der GPU usw. - gesammelt und die Presse angewiesen, dieses als geballte
Ladung, zusammen mit Bildern und Schilderungen über primitive
Lebensverhältnisse in der UdSSR, den Deutschen vorzusetzen.«64
Nach Aussage von Hauptmann Julius Reichhof, Vorsitzender des
Divisions-Kriegsgerichts der 267. Schützendivision, hatte die Wehrmacht
die Befehle und ideologischen Weisungen aus dem Jahr 1941 verinnerlicht.
Für die strafbaren Handlungen deutscher Soldaten gegenüber
Sowjetbürgern konnten die Soldaten nach Hitlers Befehl nicht vor ein
Kriegsgericht gestellt werden. Ein Soldat konnte nur vom Kommandanten
seiner Abteilung, falls dieser es für notwendig hielt, bestraft werden.
Im gleichen Befehl räumte Hitler den Offizieren der Deutschen Wehrmacht
noch viel größere Vollmachten ein. Sie konnten die russische Bevölkerung
nach ihrem eigenen Ermessen ausrotten. Der Kommandant hatte das
unbeschränkte Recht, über die Zivilbevölkerung Strafmaßnahmen zu
verhängen, so zum Beispiel ganze Städte und Dörfer in Brand zu stecken,
die Bevölkerung ihres Viehes und ihrer Lebensmittel zu berauben sowie
die Sowjetbürger zur Sklavenarbeit nach Deutschland zu verschicken.
62 V. VETTE [W. WETTE]: Vojna na unictoienie. Vermacht i
cbolokost (Vernichtungskrieg. Wehrmacht und Holocaust). In: In: Novaja i
novejsaja istorija 1999, Nr. 3, S. 102f.; vgl. auch W. WETTE: Die
Wehrmacht. Frankfurt 2002, S. 156ff.
63 Mitteilungen für die Truppe, hrsg. vom Oberkommando
der Wehrmacht/WFSt/WPr(Iie), Nr. 112, Juni 1941. Zitiert nach VETTE:
Vojna na unictoienie (ebd.), S. 103; vgl. W. WETTE: Wehrmacht (ebd.), S.
103.
64 MARLIS G. STEINERT: Hitlers Krieg und die Deutschen.
Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg.
Düsseldorf und Wien 1970, S. 209f.
65 NP, russ. Bd. 5, S. 115f.; dt. Bd. 7, S. 537.
Diese Angaben bestätigte auch Obergruppenführer Erich Bach-Zelewski bei
seiner Vernehmung während des Nürnberger Prozesses. Auf die Frage, ob es
irgendwelche Befehle zur Behandlung der Zivilbevölkerung und der
Partisanen gegeben habe, antwortete er, daß dies nicht der Fall war und
daß das Fehlen direkter Verordnungen der Willkür des Kommandeurs der
Truppe Vorschub leistete; dieser hatte das Recht, jeden Menschen als
Partisanen zu bezeichnen und dementsprechend zu behandeln. Auf die
zweite prinzipielle Frage, ob die Wehrmachtsführung von den Methoden
wußte, die zur Bekämpfung der Partisanenbewegung und zur Ausrottung der
jüdischen Bevölkerung angewandt wurden, antwortete der Zeuge kurz: »Die
Methoden waren allgemein bekannt, also auch bei der militärischen
Führung«.66
Die Wehrmachtsangehörigen kannten also die brutalen Kriegsziele und
hatten das antirussische, antibolschewistische Feindbild, das sich
bereits lange vor dem Krieg herausgebildet hatte, übernommen. Nicht ohne
Grund heißt es in der Note des Volkskommissariats für Auswärtige
Angelegenheiten der UdSSR vom 6. Januar 1942, d.h. ein halbes Jahr nach
dem Angriff auf die UdSSR:
Unumstößliche Tatsachen bezeugen, daß das Regime des Raubes und des
blutigen Terrors gegen die friedliche Bevölkerung der besetzten Dörfer
und Städte nicht aus irgendwelchen Exzessen einzelner undisziplinierter
Truppenteile oder einzelner deutscher Offiziere und Soldaten besteht. Es
stellt vielmehr ein bestimmtes System dar, das im voraus geplant und von
der deutschen Regierung und der deutschen Armeeführung gefördert wurde
und in ihrer Armee, unter den Offizieren und Soldaten, mit Vorbedacht
die niedrigsten tierischen Instinkte entfesselte.67
STALINS DIREKTIVEN AN DIE ROTE ARMEE
Seitens der UdSSR gab es keine offiziellen Richtlinien über einen
Vernichtungskrieg, dem die brutale Absicht zugrundelag, die deutsche
Zivilbevölkerung als niedere und minderwertige Rasse auszurotten.
Allerdings weckten die deutsche Besatzungspolitik und die Kriegsopfer
bei den Soldaten der Roten Armee Rachegelüste, Verbitterung und
Haßgefühle. In zahlreichen Artikeln, Reportagen und Berichten wurden der
»bestialische« Charakter des Feindes behandelt und die sowjetischen
Soldaten und Offiziere zur möglichst schnellen Vertreibung und
Vernichtung der deutschen Armee aufgerufen. Ilja Ehrenburgs Appell »Töte
den Deutschen« setzte nicht einfach nur ein zeichenhaftes Kriegssignal,
sondern drang tief in das Bewußtsein der Soldaten der Roten Armee ein.
Der weitere Verlauf des Krieges stellte die sowjetische Führung somit
vor die brisante Frage, auf welche Haltung ihre Streitkräfte gegenüber
den deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung
66 NP, russ. Bd. 5, S. 279; dt. Bd. 4, S. 537ff.
67 NP, russ. Bd. 5, S. 82f.; dt. Bd. 7, S. 485f.
eingestimmt werden sollte. Daß sie hierbei in der Armee auf Widerstand
stoßen würde, war bereits im Herbst 1944 abzusehen, als 300000
sowjetische Soldaten in das serbische Gebiet Jugoslawiens einrückten.
Milovan Djilas berichtet, daß die jugoslawischen Kommunisten über
Gewaltanwendung und Plünderungsaktionen der sowjetischen Soldaten
entsetzt waren. Den jugoslawischen Behörden wurden 121 Fälle von
Vergewaltigung, von denen 111 auch dem Tatbestand des Mordes
entsprachen, und 1204 Fälle von Plünderung in Verbindung mit
Gewalttätigkeit gemeldet.68 Alle Angaben über Ausschreitungen wurden an
General Kornejew, dem Leiter der sowjetischen Mission in Jugoslawien,
weitergemeldet. Djilas führte aus, daß die Gegner der Kommunisten diese
Vorfälle zum Anlaß nahmen, das korrekte Verhalten der englischen
Soldaten in Jugoslawien herauszustellen. Die Antwort des Generals
lautete:
Ich protestiere in schärfster Form gegen die Beleidigung, die der Roten
Armee dadurch zugefügt wird, daß man sie mit den Armeen der
kapitalistischen Länder vergleicht!69
Am 29. Oktober 1944 richtete Tito einen persönlichen Brief an Stalin,
worin er erklärte, daß
unsere Armee und unser Volk Bitterkeit empfinden über die zahlreichen
Vergehen einzelner Soldaten und Offiziere der Roten Armee, da sie die
Rote Armee vergöttern, sie idealisieren ...
Am 31. Oktober reagierte Stalin mit einem wütenden Telegramm, in dem er
sich unter anderem darüber empörte, daß trotz der enormen Opfer auf
sowjetischer Seite bei der Unterstützung Jugoslawiens vereinzelt
aufgetretene Vorfälle und Vergehen einzelner Offiziere und Soldaten der
Roten Armee verallgemeinert und als typisch für die gesamte Streitmacht
beschrieben werden.70 Und einige Monate später, im Januar 1945 stellte
der Generalissimus im Gespräch mit Mitgliedern einer jugoslawischen
Delegation unter Leitung von Industrieminister Andrija Hebrang folgende
rhetorische Frage: Ist es so schwer zu verstehen, daß
ein Soldat, der Tausende von Kilometern durch Blut und Feuer und Tod
gegangen ist, an einer Frau seine Freude hat oder irgendeine Kleinigkeit
mitgehen läßt?71
Dennoch unterzeichnete Stalin am 19. Januar 1945 einen Befehl, in dem
er sich gegen die grobe Behandlung der Bevölkerung in den befreiten
Gebieten aussprach. Dieser Befehl wurde an die Soldaten weitergeleitet;
die Militärräte der Fronten, die Befehlshaber der Armeen, die
Kommandeure der Divisionen und anderer
68 M. DZILAS: Lico totalitarizma. Moskau 1992, S. 67;
deutsch zitiert nach MILOVAN DJILAS: Gespräche mit Stalin. Übersetzt
nach der vom Verfasser autorisierten amerikanischen Ausgabe von Hermann
Junius. Frankfurt a.M. 1962, S. 115.
69 EBD.
70 JURIJ S.GIRENKO: Stalin - Tito. Moskau 1991, S.
254ff.
71 DZILAS: Lico totalitarizma (wie Anm. 68), S. 71 f.;
dt. S. 123.
Verbände erließen entsprechende Anordnungen.72 Im Februar 1945
veröffentlichte die sowjetische Führung in der Zeitschrift »Bolschewik«,
dem Presseorgan des ZK der WKP (b), einen beschwichtigenden Artikel von
Michail Kalinin, in dem dieser Stellung nahm zu der in der
amerikanischen Presse geäußerten Befürchtung, daß Ehrenburgs Haßappelle
gegen die Deutschen bei einem Übergriff des Krieges auf Deutschland zu
Exzessen gegen die Zivilbevölkerung führen würden.73 Nachdem es im März
auch in Polen zu »Randalen, Diebstählen und weiteren Vorfällen« gekommen
war74, warf Stalin den Regierungen anderer Länder nicht mehr »die
Verleumdung der Roten Armee« vor.
Beim Empfang einer tschechoslowakischen Delegation am 28. März hielt er
nach mehreren Trinksprüchen auf die Rote Armee folgende Rede:
Alle loben unsere Rote Armee. Ja, das hat sie auch verdient. Aber ich
wünschte mir, daß unsere Gäste, die jetzt \^>n der Roten Armee
begeistert sind, später nicht enttäuscht werden. Die Sache ist die, daß
zur Zeit ungefähr 12 Millionen Menschen der Roten Armee angehören. Diese
Menschen sind keineswegs Engel. Diese Menschen sind während des Krieges
verroht. Viele von ihnen haben in Kämpfen 2000 Kilometer zurückgelegt:
von Stalingrad bis in die Tschechoslowakei. Sie haben auf ihrem Weg viel
Kummer und Greuel gesehen. Daher wundern Sie sich nicht, wenn sich
einige unserer Leute in Ihrem Land nicht anständig benehmen. Uns ist
bekannt, daß einige verantwortungslose Soldaten junge Mädchen und Frauen
belästigen und sie erniedrigen, sich flegelhaft benehmen. Mögen unsere
Freunde, die Tschechoslowaken, dies jetzt wissen, damit ihre
Begeisterung für unsere Rote Armee nicht in Enttäuschung umschlägt.75
Diese besorgten Äußerungen Stalins sowie auch die Beschlüsse der
Jaltakonferenz über Deutschland erklären die scharfe Zurechtweisung und
zeitweise Ächtung Ilja Ehrenburgs. Ausgelöst wurde diese durch dessen
Artikel »Es reicht!« (Chwatit!), der am 11. April 1945, also kurz vor
dem Sturm auf Berlin, in der Zeitung »Krasnaja swesda« (Roter Stern)
erschienen war. Trotz aller publizistischen Vielschichtigkeit wirken
einige Passagen dieses Artikels, in denen sich Ehrenburg zu den
Verbrechen der Deutschen äußert, wie ein Kampfaufruf:
Kummer unserer Heimat, Kummer aller Waisen, unser Kummer - du bist mit
uns an diesen Tagen der Siege, du schürst das Feuer der
Unversöhnlichkeit, du weckst das Gewissen der Schlafenden, du wirfst
Schatten, den Schatten der verunstalteten Birke, den Schatten des
Galgens, den Schatten der weinenden Mutter auf dem Frühling des
Friedens.
72Bol'sevik l945, Nr.2, S.5.
73 EBD., S. 6.
74 Bericht des Militärkorrespondenten des Sowinformbüro
an der Weißrussischen Front Ponamarev an den Sekretär des ZK der VKP (b)
G. Malenkov vom 7. März 1945. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.
75 »Projdet desjatok let, i eti vstreci ne vosstanovis'
uze v pamjati ...« Dnevnikovaja zapis' ministra Malyseva ot 28 marta
1945 g. (»Jahrzehnte vergehen, und diese Treffen nicht in Erinnerung
bleiben .. .«.Tagebuchnotiz von Minister Malysev am 28. März 1945). In:
Istocnik 1997, Nr. 5, S. 127.
Als höchst eindrucksvoll erwies sich auch seine »Blut und
Tränen«-Statistik, für die 2103 Personen aus einem Verband der Roten
Armee befragt worden waren:
An der Front gefallene Verwandte: 1288
Erschossene und erhängte Frauen, Kinder und Verwandte: 532
Nach Deutschland zwangsverschleppt: 393
Verprügelte Verwandte: 222
Geplünderte und zerstörte Haushalte: 314
Verbrannte Häuser: 502
Konfiszierte Kühe, Pferde und Kleinvieh: 630
Als Invaliden von der Front zurückgekehrte Verwandte: 201
Selber in der Besatzungszone verprügelt: 161
An der Front verwundet: 1268.76
Zwei Tage später, am 14. April, erschien in der »Prawda« unter der
Überschrift »Genosse Ehrenburg vereinfacht« (Towarischtsch Ehrenburg
uproschtschajet) ein offensichtlich mit Stalin abgesprochener Artikel
von Georgij F. Alexandrow, Chef der Abteilung für Agitation und
Propaganda des ZK WKP (b). Unter Bezugnahme auf Stalins Äußerung vom 23.
Februar 1942, daß die »Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk, der
deutsche Staat aber bestehen bleiben«77, stellt Alexandrow Ehrenburgs
Kampfaufruf folgenden offiziellen Standpunkt gegenüber:
- Ehrenburgs Behauptung, daß »alle Deutschen gleich sind und
gleichermaßen für die Verbrechen der Hitlerfaschisten zur Verantwortung
gezogen werden«, sowie seine Feststellung, daß »es Deutschland nicht
mehr gibt, sondern nur eine riesige Bande, die auseinanderläuft, sobald
es um Verantwortung geht«, entsprechen nicht den Tatsachen.
- Es gibt kein einheitliches Deutschland, nicht alle Deutschen
verhalten sich gleich, die Bevölkerung soll nicht »das Schicksal der
Hitlerclique teilen«.
- Bei der Erfüllung seiner großen Befreiungsmission »geht und ging es
der Roten Armee zu keinem Zeitpunkt darum, das deutsche Volk
auszurotten«78.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung dieses Artikels erließ das
Hauptquartier des Oberkommandos am 20. April 1945, also zu Beginn der
Berlin-Offensive, eine klare und militärisch motivierte Direktive an die
Befehlshaber der Truppen und Mitglieder der Militärräte der 1.
Weißrussischen und 1. Ukrainischen Front »Über die Änderung der Haltung
gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen und der Zivilbevölkerung«.
Punkt 1 dieser Direktive lautet:
Fordern Sie, ihr Verhalten gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen und
auch gegenüber der Zivilbevölkerung zu ändern. Behandelt die Deutschen
besser. Das brutale Vorgehen
76 IL'JA ERENBURG. Sobmnie socinenij (Gesammelte Werke).
8 Bde. Moskau 1990-2000; hier Bd. 5, S.203ff.
77 I. V. STALIN: O Velikoj Otecestvennoj vojne
Sovetskogo Sojuza. Moskau 1949, S. 46.
78 Pravda vom 14. April 1945.
gegenüber den Deutschen erzeugt bei ihnen Angst und zwingt sie zu
beharrlichem Widerstand, um der Kriegsgefangenschaft zu entgehen. Die
Zivilbevölkerung organisiert sich aus Angst vor Vergeltung in Banden.
Diese Situation ist für uns ungünstig. Eine humanere Haltung zu den
Deutschen würde uns die Kampfführung erleichtern und die Hartnäckigkeit
der Deutschen bei der Verteidigung zweifellos verringern.79
Auch Marschall Shukow ermahnte seine Truppen, sich während der
Offensive und Besatzung auf ihre militärischen Pflichten zu
konzentrieren:
Soldaten, achtet darauf, wenn ihr die Rocksäume deutscher Mädchen
betrachtet, daß ihr darüber nicht vergeßt, warum euch die Heimat hierher
geschickt hat.80
Betrachtet man einerseits Stalins inoffizielle Äußerungen, die von ihm
unterzeichneten Befehle, seine offiziellen Reden und Artikel in der
sowjetischen Presse und andererseits die Organisation, Planung und
zeitliche Abstimmung ihrer Realisierung, so entsteht ein
widersprüchlicher Eindruck: Die Mahnungen waren eine Sache, ihre
Durchsetzung eine andere. Vermutlich wurden sie so auch von den
Rotarmisten aufgenommen. Norman Naimark verweist beispielsweise darauf,
daß viele der am Straßenrand postierten Parolen eine andere Sprache als
die offizielle Botschaft aus Moskau sprachen.
»Hier ist es, das verfluchte Deutschland«, stand auf den sowjetischen
Plakaten an der polnisch-pommerschen Grenze. »Hier ist sie, die Höhle
der Faschisten - Berlin!«81
Aus der Memoirenliteratur ist bekannt, daß die Soldaten kurz vor dem
Winterangriff 1945 die Genehmigung erhielten, einmal pro Monat ein oder
zwei Acht-Kilo-Pakete nach Hause zu schicken, den Offizieren wurde sogar
das doppelte Gewicht zugestanden. War dies etwa keine unmißverständliche
Aufforderung für künftige Marodeure und keine Ermunterung zu rauben?
Generalleutnant Fjodor I. Bokow, der spätere Chef des Militärrats der
Sowjetischen Militäradministration, notiert:
War es denn so verwunderlich, daß sie sich rächen wollten? Von der
Losung »Tod den deutschen Okkupanten« bis zu einer differenzierten
Einstellung jedes einzelnen gegenüber der deutschen Bevölkerung war es
ein weiter Weg.82
Auch der spätere Oberbefehlshaber der sowjetischen Streitkräfte in
Deutschland, Wassilij I. Tschujkow, vermerkt, daß die Soldaten beim
Einmarsch seiner Armee nach Deutschland immer noch nicht in der Lage
waren,
79 Vgl. SEMIRJAGA: Kok my upravljali Germaniej (wie Anm.
12), S. 314f.
80 Zitiert nach B. N. OL'SANSKIJ: My prkhodili s vostoka
(Wir kamen aus dem Osten). Serija Nikolaevskogo. Nr. 177, NIA, S.231.
81 NAIMARK: Die Russen in Deutschland (wie Anm. 48), S.
101.
FJODOR JE. BOKOW: Frühjahr des Sieges und der Befreiung.
Berlin (Ost) 1979, S. 187; russisch F. E.
BOKOV: Vesnapobedy. Moskau 1979.
das [deutsche] Volk vom Faschismus und dessen Führer, Hitler, zu
trennen«.83
»KRIEGSERFORDERNISSE« UND VERHALTENSSTEREOTYPE
In deutschen wie russischen Forschungen zum Krieg wird immer wieder die
Auffassung geäußert, daß einige Abweichungen vom Kriegsrecht
gerechtfertigt seien, da sie durch »die Erfordernisse des Krieges«
bedingt gewesen sind. In Deutschland geht diese Auffassung auf den
deutschen General Hartmann (1817-1878) zurück, der sich 1877 gegen eine
Kodifizierung des Kriegsrechts aussprach und dem »Ideal des Rechts« die
»Realität des Krieges« gegenüberstellte.84 Allerdings lebte Hartmann zu
einer Zeit, als die gängigen Vorstellungen von Moral und Ehre dem Denken
des preußischen Offiziersstands entsprachen. So vermerkt der russische
Jurist Fjodor F. Martens (1845-1909), Professor für internationales
Recht, von dem die 1907 in die Haager Landkriegsordnung eingegangene
sogenannte Martens'sche Klausel85 stammt, in seinem Buch »Frieden und
Krieg«:
Man könnte meinen, daß General Hartmann die militärische Gewalt gar
nicht begrenzen will und nicht darum bemüht ist, die Leidenschaften der
wutentbrannten Armeen zu zügeln, doch in Wirklichkeit ist er weit davon
entfernt. Er beschränkt sich nicht nur darauf, einige Kriegsgesetze und
-brauche anzuerkennen, sondern zeigt auch eifrig auf, daß ihre Befolgung
für eine zivilisierte Armee eine Frage der Ehre und des Gewissens ist.
Hartmanns Ansicht nach sollen sich Rechtsbewußtsein und hohe Moral auf
alle Handlungen der Kämpfenden auswirken.86
Allerdings führte die massenweise Rekrutierung von Soldaten, denen
moralische und menschliche Begriffe fremd waren, im Zweiten Weltkrieg zu
Befehlen, die die Erfordernisse des Krieges zur Handlungsmaxime für alle
Kämpfenden erklärten. So schreibt Manfred Messerschmidt:
Im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion forderte die politische und
militärische Führung von Anfang an, noch bevor überhaupt strategische
oder taktische »Notwendigkeiten« auftreten konnten, die Bereitschaft zu
rechtswidrigem, ja verbrecherischem Handeln. Hitler ließ vor der
Generalität nicht den geringsten Zweifel daran. Seine Vorstellungen
waren konsequente Weiterentwicklungen der schon in seinen Büchern der
83 VASILIJ I. CUJKOV: Konec tret'ego rejcha. Moskau 1973,
S.43; deutsch WASSILIJ TSCHUIKOW: Das Ende des Dritten Reiches. München
1966.
84 J[ULIUS] VON HARTMANN: Militärische Nothwendigkeit
und Humanität (= Kritische Versuche, Bd. 2). Berlin 1878.
85 Grundlage des Völkerrechts seien die sich aus den
unter gesitteten Völkern feststehenden Gebräuchen und aus den Gesetzen
der Menschlichkeit und aus den Forderungen des öffentlichen Gewissens
ergebenden Handlungsnormen.
86 FEDOR F. MARTENS: Sobranie traktatov,
zakljucennychRossijusinostrannymiderzavami (= Recueil des traites et
Conventions conclus par la Russie avec les puissances etrangeres).
Zusammengestellt von F. Martens. 15 Bde. St. Peterburg 1874-1909.
zwanziger Jahre niedergelegten politischen Grundsätze. Sie führten die
Wehrmacht und damit letztlich Staat und Nation in einen Krieg neuer
Qualität.87
Die neue »Qualität« des Krieges kam u.a. in den zahlreichen
Aufforderungen zur Erschießung und Ermordung der Zivilbevölkerung zum
Ausdruck. So sagte der bereits zitierte Obergefreite des 2.
Luftwaffen-Infanterie-Regiments der 4. Luftwaf-fen-Infanterie-Division
Le Court bei seiner Vernehmung aus, daß er als Anerkennung seiner »guten
Arbeit und des Dienstes in der Deutschen Wehrmacht (gemeint war damit
die Erschießung von Kriegsgefangenen und Sowjetbürgern) vorzeitig zum
Obergefreiten befördert und mit der »Ostmedaille« ausgezeichnet wurde.88
Er selbst hatte mehr als 30 Häuser und 70 Personen, in der Mehrzahl alte
Leute, Frauen und Kinder verbrannt.
Allerdings würden wir das Problem der Verbrechen vereinfachen,
reduzierten wir es nur auf »die Erfordernisse des Krieges«, d.h. auf
Konflikte, die sich aus der Ausführung rechtswidriger Befehle ergeben,
bzw. auf unmittelbar wirkende Faktoren und ein System äußerer Umstände,
die quasi automatisch bestimmte Verhaltensweisen hervorbringen.89 Dem
verbrecherischen Verhalten der Angehörigen der Wehrmacht wie dem der
Roten Armee lagen zudem bestimmte Verhaltensstereotype zugrunde, solche,
die erst unter Kriegsbedingungen zutage treten. Gemeint sind Handlungen,
deren antisoziale Bedeutung nicht eigentlich reflektiert worden ist. Sie
sind in der Regel spontan und werden durch plötzlich sich ergebende
Handlungsdispositionen und -konstellationen begünstigt. Sie sind einem
Ausnahmezustand vergleichbar, in dem normalerweise erwartbare
Handlungsprinzipien außer Kraft gesetzt sind. Ohne hier im einzelnen auf
die sozialpsychologischen, individuell bzw. kollektiv verhandenen
Verhaltensdispositionen einzugehen, ist es mehr als offensichtlich, daß
sich sowohl viele deutsche Soldaten und Offiziere in der UdSSR, als auch
sowjetische Soldaten und Offiziere in Deutschland in einer Art
Ausnahmesituation fühlten und gegen die auch im Krieg gültigen
Prinzipien des Völkerrechts verstoßen haben. Die allgemeine Situation
des Krieges war für die Realisierung bestimmter - auch in anderen
Kriegen beobachtbarer - Verhaltensmuster daher geradezu prädestiniert.
Während die meisten Soldaten dtn Krieg als Kampf um Gerechtigkeit
ansahen, mißbrauchten andere geltendes Recht. Den Aussagen von Le Court
und Schwager nach zu urteilen, gab es immer wieder Fälle, in denen
Wehrmachtsangehörige einen wahren Genuß am Foltern und an den Qualen
ihrer Opfer hatten.
Abgesehen vom Verhalten sowohl deutscher wie russischer Soldaten waren
die Handlungsnormen von Angehörigen der Roten Armee auch durch eine
Reihe weiterer Momente gesteuert. Diese erklären bis zu einem gewissen
Grade ihre Haltung Deutschland gegenüber. Sie wollten Unrecht vergelten,
ihren Unmut ob der
87 MESSERSCHMIDT: Der Kampf der Wehrmacht (wie Anm. 55),
S. 229f.
88 NP, russ. Bd. 5, S. 99; dt. Bd. 7, S. 512.
89 STANG: Schuld und Schuldeingeständnis (wie Anm. 20),
S. 131-152.
erzwungenen Kriegssituation Luft machen, ihre Angst durch
Herrschaftsausübung kompensieren, wozu neben dem Siegen auch das
Beutemachen gehörte. Die Erfahrung, aus armen Verhältnissen als Sieger
in ein reiches Land zu kommen, verstärkte diese Haltung.90 Die
Verwüstungen und Plünderungen deutscher Wohnhäuser sind durchaus auch
als Folge des beim Vergleich des eigenen Lebensniveaus mit dem Wohlstand
in Deutschland aufkommenden Neids der Soldaten zu begreifen. Schwarz van
Berk zitiert Tagebuchaufzeichnungen und Feldpostbriefe von Angehörigen
der Roten Armee an ihre Familien, in denen die »unwahrscheinliche Armut
des Lebens der breiten Massen unter dem roten Stern« beschrieben und
darauf verwiesen wird, wie deprimierend der Wohlstand des Westens für
die russischen Soldaten war. Sie fühlten sich wie »ein neuer Robinson«,
den es »aus einem fernen, kahlen Lande plötzlich mitten in eine
technisch hochentwickelte, bis ins letzte zivilisierte Welt verschlagen«
hatte.91
Antony Beevor vertritt die Auffassung, daß die Kriminalität der Russen
auf die fehlende Disziplin in der Armee und die zwangsweise
Entmenschlichung durch zwei bis drei Jahre Krieg zurückzuführen sei, die
»alle bewaffneten Männer zu potentiellen Gewalttätern werden lassen«.
Allerdings trifft dies seiner Meinung nach nicht für alle Armeen im
besetzten Deutschland zu:
In Berlin wurde auf dem Schwarzmarkt in »Zigarettenwährung« gezahlt.
Als die amerikanischen Soldaten, denen diese Währung fast unbegrenzt zur
Verfügung stand, eintrafen, hatten sie es nicht nötig, sich eine Frau
mit Gewalt zu nehmen.92
Einen weiteren Grund für die Eskalation der Gewalt in der sowjetischen
Armee sieht Beevor darin, daß die Soldaten freien und praktisch
uneingeschränkten Zugriff auf Alkohol hatten.
Der größte Fehler der deutschen Militärbehörden war ihre Weigerung, vor
dem Eintreffen der Roten Armee alle Alkoholvorräte zu vernichten. Sie
taten das in der Vorstellung, ein betrunkener Feind werde nicht gut
kämpfen können. Es war geradezu tragisch für den weiblichen Teil der
Bevölkerung, daß die Rotarmisten sich damit Mut antranken, um zu
vergewaltigen und das Ende dieses schrecklichen Krieges zu feiern.93
Beevor sucht aber auch nach Erklärungen für die von ihm offengelegten
Fakten und Zeugnisse bezüglich der »Jagd auf Frauen« und befaßt sich mit
den Triebmechanismen für die »Kasernenerotik«. So schreibt er:
90 Vgl. hierzu ausführlich GENNADY BORDIOUGOV: The
Populär Mood in tbe Unocatpied Soviet Union: Continuity and Change
during tbe War. In: Robert W. Thurston/Bernd Bonwetsch (Hrsg.): The
People's War: Responses to World War E in the Soviet Union. Urbana und
Chicago 2000, S. 54-83.
91 HANS SCHWARZ VAN BERK : Iwan im Netzhemd. Oder: Die
Ankunft der armen Teufel. In: Das Reich vom 4. März 1945; Wiederabdruck
in HANS DIETER MÜLLER (Hrsg.): Facsimile Querschnitt durch Das Reich.
Bern und München 1964, S. 204 f.
92 BEEVOR: Berlin. The downfall (wie Anm. 46), S. 414;
dt. S. 450.
93 EBD., S. 409; dt. S. 444.
Als die Rote Armee Berlin erreichte, betrachteten die Soldaten deutsche
Frauen eher als normale Kriegsbeute und nicht mehr als Ziel ihres
Hasses. Das Element der Dominanz war zwar immer noch vorhanden, aber
möglicherweise als Ergebnis der Erniedrigungen, die sie selbst durch
ihre Kommandeure und die Sowjetbehörden insgesamt hatten erdulden müssen
[...]. Stalin setzte durch, daß nahezu alles Sexuelle aus der
sowjetischen Gesellschaft verbannt wurde. Und dies nicht aus
puritanischer Überzeugung, sondern weil Liebe und Sex nicht zu den
Dogmen paßten, mit denen man dem Individuum alles Persönliche austreiben
wollte. Menschliche Gefühle und Bedürfnisse hatten darin keinen Platz.
Freuds Werke wurden verboten, Scheidung und Ehebruch wurden von d»
Partei scharf verurteilt. [...] Das Regime suchte zu erreichen, daß sich
Liebe ausschließlich auf die Partei, vor allem auf ihren großen Führer,
richtete.
Einige Augenzeugen schildern, wie widersprüchlich das Verhalten der
Soldaten und Offiziere der Roten Armee bei der Einnahme Berlins war. So
berichtet die englische Aristokratin Jessica Redsdale, die sich Anfang
Mai 1945 in Berlin aufhielt, in einem Brief an ihre Freundin:
Gestern sah ich, wie zwei junge russische Soldaten einen Jungen vom
Volkssturm prügelten. Sie schlugen heftig auf ihn ein, doch nach kurzer
Zeit mischte sich ein älterer Russe ein, zerrte sie auseinander und
redete auf sie ein [...]. O weh, in Berlin fließt immer noch Blut [...].
Die russischen Infanteristen sind sehr wütend auf die Deutschen,
schlagen bei der kleinsten Provokation zu. Ich kenne deine Haltung zur
russischen Literatur, zu den Russen und beobachte dies deshalb
aufmerksam. Meiner Meinung nach haben alle von den Russen mehr
Brutalität erwartet. Aber sie sind vor allem grob und das häufig nur
deshalb, weil sie so unendlich müde sind. Ich habe mit einem russischen
Übersetzer aus dem Stab der 1. Weißrussischen Front gesprochen und ihm
erzählt, wie sich der ältere Soldat für den jungen Deutschen eingesetzt
hat. Er erklärte das so: »Ist doch klar, ihm taten die jungen Leute
leid.« Und als er meine fragenden Augen sah, fügte er hinzu: »Es ist
schwer, immer nur zu hassen. Man will lieben.«95
Der Schweizer Journalist Max Schnetzer fragte einen Kollegen, der die
Kämpfe in Berlin-Wannsee beschrieb, wie sich die Russen verhalten
hätten.
Teils wie Schweine, teils wie Engel [...]. In einzelnen Wohnungen ist
es zu wüsten Szenen mit Frauen und Mädchen gekommen. Eine Frau ist an
der Mißhandlung durch zehn Soldaten gestorben. In anderen Häusern haben
sich die Russen wie Freunde auf-geführt [...].96
In Tagebüchern und Memoiren, wie z.B. von Ellen Gräfin Poninski, wird
das Verhalten der sowjetischen Soldaten mit dem primitiver Kinder
verglichen, die extrem freundlich, besonders zu Kindern, aber auch
gemein und brutal sein konnten. Peter
94 EBD., S.32;dt. S.45f.
95 Zitiert nach ELENA S-JANOVA: Tri kapituljacii
tret'ego rejcha (Drei Kapitulationen des Dritten Reiches). In: Izvestija
vom 7. Mai 2003. Dieser Artikel basiert auf bisher unveröffentlichten
Dokumenten aus dem Beutearchiv des Generalstabs der RKKA.
96 Zitiert nach NAIMARK: Die Russen in Deutschland (wie
Anm. 48), S. 106.
Bloch, der die ersten Wochen der Besatzung in Kleinmachnow bei Berlin
erlebte, schreibt über seine Erinnerung an Russen:
Sie waren unberechenbar; brutal wie Hunnen und zutraulich wie Kinder.
Man wußte nie, woran man mit ihnen war. Sie konnten ungerührt Menschen
totschießen und Frauen vergewaltigen, Kindern Schokolade schenken und
vor einem Stall mit jungen Kaninchen lachend und bewundernd hocken.97
hi ständig wiederkehrenden gefährlichen und abstrusen Situationen, in
denen niemand einzuschätzen vermochte, wie sich der deutsche >Besatzer<
oder der sowjetische >Befreier< verhalten würde, mußte die
Zivilbevölkerung notgedrungen nach Möglichkeiten des Selbstschutzes und
der eigenen Rettung suchen. Sowohl das sowjetische als auch das deutsche
Oberkommando warnte die Bevölkerung vor dem regelwidrigen Verlauf des
Krieges, sie versuchten, deren Evakuierung zu organisieren und die
Flüchtlingsströme zu schützen. Allerdings hatten in bestimmten
Kriegsphasen Beschlüsse von oben, mit denen die Besatzung verhindert
werden sollte, schwerwiegende Folgen. Erwähnt sei nur der Befehl des
Hauptquartiers des Oberkommandos vom 17. November 1941, in dem die
sowjetischen Truppen kategorisch aufgefordert wurden,
alle Ortschaften im Hinterland der deutschen Truppen in einer Tiefe von
40 bis 60 km von der Hauptkampflinie und 20 bis 30 km rechts und links
von den Wegen zu zerstören und niederzubrennen.98
Zur Ausführung dieses Befehls, der die Bezeichnung »Taktik der
verbrannten Erde« erhielt, wurden nicht nur die NKWD-Truppen, sondern
auch die Luftstreitkräfte, die schwere Artillerie, die
Flammenwerfereinheiten und die Diversionsgruppen der Roten Armee
eingesetzt. Beim Abzug der Verbände und Truppenteile der Roten Armee
zerstörte man Industrieobjekte, Kraftwerke, Rohstoffe und
Fertigerzeugnisse. Nicht weniger folgenschwer war am 30. April 1945
Hitlers Befehl, die Schleusen des Landwehrkanals zu öffnen und die
Berliner U-Bahn zu fluten. Hierbei kamen viele deutsche Soldaten, Frauen
und Kinder, die sich in den U-Bahn-Stationen versteckt gehalten hatten,
ums Leben.
Zahlreiche Menschen, die sich nicht auf den Schutz ihrer Regierung bzw.
später der Besatzungsmächte verlassen wollten, paßten sich
gezwungenermaßen an, um zu überleben. Hauptsächlich, um ihre Familie
durchzubringen, stellten sie sich in den Dienst der Organe des neuen
Machtregimes, wurden Kollaborateure und arbeiteten in feindlichen
Unternehmen. Im März 1943 reiste die »Prawda«-Korrespondentin Je.
Kononenko nach Woronesh und berichtete anschließend über ihre Gespräche
mit Frauen aus den besetzten Gebieten:
97 Zitiert nach EBD., S. 107.
98 CA MO RF, f. 353, op. 5864, d. 1, Bl. 27. Vgl. zu
diesem Befehl auch den Dokumentenband Skrytaja pravda vojny. 1941 god.
Neizvestnye dokumenty (Die verschwiegene Wahrheit des Kriegs. Das Jahr
1941. Unbekannte Dokumente). Moskau 1992, S.211.
Sie erzählten von Mädchen, die mit Deutschen »ausgingen«. Die Deutschen
schenkten denen, die mit ihnen schliefen, Sachen, Kleider [...]. Maruska
bekam von ihrem Kavalier eine Schachtel Pralinen und einen Sack Weißmehl
aus Woronesh. Sie erzählten, daß manche auch von den Fritzen schwanger
geworden sind, und zwei im nächsten Monat ein Kind bekommen [...]. Eine
hat sogar einen Deutschen geheiratet, und als sie weggingen, hat er sie
unterwegs verlassen, und sie ist barfuß ins Dorf zurückgekommen. Selbst
schuld, die Dumme. Und jetzt weint sie, hatte sie ihn doch aus Liebe
geheiratet [...].
Gegen den Vorwurf, wie sie mit Deutschen tanzen und mit ihnen sprechen
könnten, wo nebenan unsere Rotarmisten sterben, setzten sie sich erregt
zur Wehr:
Aber was sollten wir machen? Wie helfen? [...] Ihr seid weit weg, aber
wir müssen mit ihnen leben. Bist du ihnen nicht gefällig, geht es dir
schlecht. Ja, wir haben uns nicht einmal besonders um sie bemüht. Manche
haben sich um sie bemüht, aber wir haben uns einfach mit unserem
Schicksal abgefunden.99
Sowohl russische als auch deutsche Frauen lernten, sich während der
>Jagdstun-den< der Soldaten und Offiziere zu verbergen. In Berlin
versteckten sie ihre jungen Töchter tagelang auf Dachböden. Zuweilen
ging die größte Gefahr von Nachbarn aus, die diese Verstecke verrieten,
um auf diese Weise ihre eigenen Töchter zu retten. Viele Frauen gaben
sich auch >freiwillig< einem Soldaten hin, in der Hoffnung, daß er sie
vor den anderen beschützen würde. Susan Brownmiller vermerkt, daß
anschließend die Zeit des Hungers begann, »der Übergang von
Kriegsvergewaltigungen zur Kriegsprostitution war fließend«100. Ursula
von Kardorff berichtet, daß Berlin nach der Kapitulation sogleich voller
Frauen war, die ihren Körper für Lebensmittel oder die alternative
Währung, Zigaretten, feilboten.101 Heike Sander, eine deutsche
Filmregisseurin, die sich ausführlich mit diesem Thema befaßte, schreibt
über die »Mischung von direkter Gewalt, Erpressung, Berechnung und
aufrichtiger Anhänglichkeit«102.
Russische und deutsche Frauen entstellten sich und ihren Töchtern
häufig die Gesichter, verkrüppelten sich, um Demütigungen zu entgehen,
und begingen Selbstmord. Iwan A. Serow, Vertreter des Volkskommissars
für Innere Angelegenheiten und NKWD-Beauftragter der UdSSR an der 1.
Weißrussisch<*n Front, vermerkt in einem Geheimbericht an Lawrentij P.
Berija vom 5. März 1945, daß die
99 Auszug aus einer Bescheinigung der Organisations- und
Instruktionsabteilung des ZK der VKP(b) Ȇber das Verhalten der
Kommunisten und Komsomolzen, die im Hinterland beim Feind blieben«, Mai
1943. In: E. Ju. ZUBKOVA: A tak, konecno, oni - gady. In: Rodina
Sonderausgabe »Rossija I Germanija. XX vek« 2002, Nr. 10, S. 59.
100 Zitiert nach SUSAN BROWNMILLER: They raped every
German female from eight to eighty. In: The Daily Telegraph vom 12. Juni
2001.
101 EBD. Vgl. dazu auch URSULA VON KARDORFF: Berliner
Aufzeichnungen 1942 bis 1943. Unter Verwendung der Original-Tagebücher
neu hrsg. und kommentiert von Peter Haiti. 2. Aufl. München 1997.
102 The Daily Telegraph (wie Anm. 100). Vgl. dazu auch
HELKE SANDER: Befreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigungen, Kinder.
München 1992.
Selbstmorde von Erwachsenen und besonders von Frauen mit vorheriger
Tötung ihrer Kinder Massencharakter annahmen.103
EINGESTÄNDNIS UND BEWUßTSEIN DES VERBRECHENS
Gleich nach Kriegsende wurde der aus der Sicht der Sieger natürliche
Wunsch, den besiegten Feind nicht länger nur als »faschistischen
Menschenfresser«, »Unmensch«, »Ekel« oder »dumpfen Hunnen«, sondern als
Menschen wahrzunehmen, in der UdSSR strengstens unterbunden. Auch
Gespräche oder Diskussionen über die negativen Seiten der Befreiung
Ostdeutschlands waren untersagt. Heute besteht nicht nur die
Möglichkeit, über die Verbrechen zu sprechen, sondern nach und nach auch
Dokumente einzusehen, in denen die während des Krieges bis zur
Kapitulation Deutschlands und in der Nachkriegszeit verübten Verbrechen
direkt oder indirekt als solche erkannt und zugegeben werden. Sich über
ein Verbrechen bewußt zu werden, ist keineswegs mit einem
Schuldeingeständnis gleichzusetzen. Vielmehr werden Erklärungen,
Verschleierungen und Rechtfertigungen vorgebracht. Manche hatten zwar
die Möglichkeit, Einsicht in die Umstände zu nehmen und sie
vorauszusehen, sie taten es aber nicht. Als Beweggrund für kriminelles
Verhalten spielen Emotionen wie Haß, Angst und Grausamkeit eine Rolle,
sie bilden den Hintergrund, vor dem die intellektuellen und
willkürlichen Prozesse abliefen.
Schuldeingeständnisse und Verurteilungen von Verbrechen gegen die
Zivilbevölkerung lassen sich auf zwei Ebenen betrachten, einer
offiziellen und einer individuellen, wobei beide sich stark voneinander
unterscheiden können.
Die Ansichten über das deutsch-russische bzw. russisch-sowjetische
Verhältnis waren in der Wehrmacht nicht so einheitlich, wie es die
nationalsozialistische Propaganda vorgab. Dies wurde bereits in den
ersten Kriegsmonaten bei einigen Offizieren sichtbar, denen es nicht nur
um das politische Ziel der Vernichtung des Bolschewismus, sondern auch
um eine gerechtere Behandlung der russischen Bevölkerung ging. Ausgehend
von einem traditionell positiven Rußlandbild war ihnen die Feststellung,
daß sich russisch-slawischer und deutscher Charakter nie vertragen
würden, einfach zu primitiv. So erklärt Major G. Meier-Welcker im Januar
1942:
Die russischen Bauern sind keineswegs alle »hinterhältig und dumpf«.
Ich muß sogar sagen, daß ich diese Eigenschaften nur selten antreffe.
Was wir »dumpf« nennen, ist vielfach eine Art zu leben, die uns schwer
zugänglich und verständlich ist. Wie viele rührend anständige Menschen,
geradezu treue Seelen habe ich in diesem Land getroffen. Und welche
Fähigkeit, sein Schicksal zu tragen, besitzt dieses Volk.104
103 Vgl. ZIROVA: »Cast' naselenija
koncaetzizn'samoubijstvom« (wie Anm. 44), S. 45ff.
104 Zitiert nach JÜRGEN FÖRSTER: Zum Rußlandbild des
Militär 1941-194}. In: Hans-Erich Volkmann (Hrsg.): Das Rußlandbüd im
Dritten Reich. Köln, Weimar und Wien 1994, S. 154.
In der Anfangsphase des Krieges wurde unter den Privatsachen eines
gefallenen deutschen Offiziers ein Sonderbefehl gefunden, den ein
Hauptmann aus dem Generalstab am 17. Juli 1941 erteilt hatte:
Bataillon des Regiments 394, Abteilung 1 a. In einer Unterabteilung kam
es zu Vorfällen, bei denen Hühner geschlachtet und weggeworfen wurden.
Solche Vorfälle werde ich in meinem Bataillon nicht dulden und bitte
[... ] mit mindestens 5 Tagen strengstem Arrest zu bestrafen.
Gleichzeitig bitte ich sorgsam darauf zu achten, daß die Gärten der
bewohnten Dörfer nur mit Genehmigung eines Offiziers betreten werden.
Diese Verordnun^ist den Truppenteilen innerhalb von 14 Tagen
bekanntzugeben.105
In einem Merkblatt zum Beuteeigentum und zu
Lebensmittelbeschlagnahmun-gen vom 10. August 1941 wird darauf
verwiesen, daß Truppenteile und einzelne Soldaten Dorfbewohnern, ohne zu
bezahlen, lebendes und totes Inventar, das sie selbst benötigten,
weggenommen haben. In dem Papier wird gefordert, solche Fälle >wilder
Übergriffe< in Zukunft zu unterlassen.106
In die gleiche Richtung zielt ein Befehl des Oberbefehlshabers der 16.
Armee, Busch, vom 29. Juli 1941 an die Kommandeure der Korps und
Divisionen. Anläßlich der Vorfälle >räuberischen< Verhaltens von
Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung ordnet er an:
Ein Verstoß ist ungeachtet der Person zu bestrafen: Plünderungen, wilde
Wegnahmen werden vom Kriegsgericht bestraft.107
In der Anlage zum Befehl geht er auf Handlungen ein, die das Eigentum
der Bürger in den besetzten Gebieten betreffen:
Verstoß 3. Räuberische Übergriffe [...] sind ein Herd von
Undiszipliniertheit. Sie untergraben nicht nur das Ansehen des
Truppenteils, sondern durch falsche Requisitionsbelege gerät auch der
Wiederaufbau der Landwirtschaft, an der wir großes Interesse haben, ins
Stocken, die Ernte und unsere Lebensmittelversorgung werden gefährdet
und das Vertrauen der Bauern erschüttert.
Als Ausweg wird empfohlen: Die jeweilige Einheit kann selbständig gegen
Barzahlung (bis zu 1000 Mark) Vieh erwerben und schlachten, wenn ihr
Bedarf durch die Sch'achtkom-panie nicht gesichert sein sollte. Hierbei
darf nicht mit Reichsmark abgerechnet werden, sondern nur mit Rubeln
oder Kreditscheinen, ab 1000 Mark sind Quittungen über den Empfang in
Deutsch und Russisch auszustellen.
Vorbeugungsmaßnahmen: Dauerhafte Beobachtung durch das Kommando. Das
»Anlegen von Viehvorräten« ist untersagt. Nicht zu dulden sind auch
Plünderungen und die sinnlose Suche nach »Schätzen«. Plünderungen über
den unmittelbaren Bedarf hinaus sind unverzüglich dem Armeestab zu
melden.108
105 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 52, Bl. 19.
Rückübersetzung aus dem Russischen.
106 EBD., Bl. 128. Rückübers. aus dem Russischen.
107 EBD., Bl. 129-131. Rückübers. aus dem Russischen.
108 Neizvestnaja Rossija (wie Anm. 26), S. 265.
Rückübers. aus dem Russischen.
Wenn die Hauptverwaltung Aufklärung der Roten Armee Befehle dieser Art
aufspürte, ging sie davon aus, daß das deutsche Oberkommando
eigenmächtiges Marodieren von Einzelpersonen zwar untersagte, die
Soldaten für Verstöße gegen diese Verbote jedoch in der Regel nicht
bestrafte. Daher hatten diese Befehle aus sowjetischer Sicht nicht die
geringste praktische Bedeutung und sollten lediglich unter Beweis
stellen, daß sich die deutsche Armee an die internationalen Regeln der
Kriegsführung hielt.109
Es ist nicht zu übersehen, daß einzelne Wehrmachtsoffiziere ab 1942
gegen die grausame Behandlung der Zivilbevölkerung protestierten. Als
Beispiel hierfür seien der Bericht des ehemaligen Befehlshabers des 528.
Infanterie-Regiments Major Rösler und das Schreiben des Chefs des 9.
Wehrbezirks Schirwindt angeführt. Ende Juli 1941 befand sich das von
Rösler geführte 528. Infanterieregiment auf dem Weg von Westen nach
Shitomir, wo es Quartier beziehen sollte. Nicht weit von diesem Platz
waren Gewehrsalven zu hören, denen einige Zeit später Pistolenschüsse
folgten. Rösler und sein Adjutant und Ordonnanzoffizier, Oberleutnant
von Bassewitz und Leutnant Müller-Brodmann, beschlossen, der Sache auf
den Grund zu gehen: Wir bekamen bald den Eindruck, daß sich hier ein
grausames Schauspiel abspielen müsse, denn nach einiger Zeit sahen wir
zahlreiche Soldaten und Zivilpersonen einem vor uns liegenden Bahndamm
zuströmen, hinter dem, wie man uns meldete, laufend Erschießungen
vorgenommen werden. [...] Als wir schließlich den Bahndamm erklettert
hatten, bot sich uns jenseits dieses Dammes ein Bild, dessen grausame
Abscheulichkeit auf den unvorbereitet Herantretenden erschütternd und
abschreckend wirkte. In die Erde war ein etwa 7-8 Meter langer,
vielleicht 4 Meter breiter Graben eingezogen, dessen aufgeworfene Erde
auf der einen Seite aufgeschichtet war. Diese Aufschichtung und die
darunterliegende Grabenwand war vollständig mit Strömen von Blut
besudelt. Die Grube selbst war mit zahlreichen menschlichen Leichen
aller Art und jeden Geschlechts gefüllt, so daß ihre Tiefe nicht
geschätzt werden konnte. Hinter dem aufgeschütteten Wall stand ein
Polizeikommando, das von einem Polizeioffizier befehligt wurde. Die
Uniformen dieses Kommandos wiesen Blutspuren auf. In weitem Umkreis
ringsherum standen unzählige Soldaten dort bereits liegender
Truppenteile, teilweise in Badehosen, als Zuschauer, ebenso zahlreiche
Zivilisten mit Frauen und Kindern. Ich habe mir daraufhin durch ganz
dichtes Herantreten an den Graben ein Bild verschafft, das ich bis heute
nicht vergessen konnte. Unter anderem lag in diesem Grab ein alter Mann
mit einem weißen Vollbart, der über seinem linken Arm noch ein kleines
Spazierstöckchen hängen hatte. Da dieser Mann noch durch seine stoßweise
Atemtätigkeit Lebenszeichen von sich gab, ersuchte ich einen der
Polizisten, ihn endgültig zu töten, worauf dieser mit lachender Mine
sagte: »Den habe ich schon 7mal was in den Bauch gejagt, der krepiert
schon von alleine.« Die in dem Grabe liegenden Erschossenen wurden nicht
besonders zurechtgelegt, sondern blieben so, wie sie nach dem Schuß von
der Grabenwand heruntergefallen waren. Alle diese Leute wurden durch
Nackenschüsse erledigt und anschließend von oben her mit
Pistolenschüssen abgefangen.
109 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 253, Bl. 113.
Seinen Bericht schließt Rösler mit folgenden Worten:
Ich habe durch meine Teilnahme am Weltkriege sowie dem französischen
und russischen Feldzug keineswegs eine übertriebene Verweichlichung
meines Gemütes erfahren, habe auch durch meine Betätigung in den
Freiwilligenformationen des Jahres 19 manches mehr als Unerfreuliche
erlebt, ich kann mich jedoch nicht entsinnen, jemals einer solchen
Szene, wie der geschilderten, beigewohnt zu haben [...]
Ich erwähne noch, daß nach Aussagen von Soldaten, die sich diese
Hinrichtungen öfters ansahen, täglich mehrere Hunderte erschossen worden
sein sollen.110
Der stellvertretende Befehlshaber des IX. Armeekorps und Chef des 9.
Militärbezirks Schirwindt leitete Röslers Bericht an den Chef des
Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts in Berlin weiter und kommentierte ihn
folgendermaßen:
Auf Grund umlaufender Berichte über Massenexekutionen in Rußland bin
ich dem Ursprünge nachgegangen, da ich sie für weit übertrieben hielt.
Anliegend überreiche ich einen Bericht des Majors Rösler, der die
Gerüchte in vollem Maße bestätigt. Wenn solche Handlungen in dieser
Öffentlichkeit stattfinden, wird es nicht zu vermeiden sein, daß sie in
der Heimat bekannt und kritisiert werden.111
Die weitere Entwicklung dieser Geschichte ist nicht bekannt.
1943 wurden die Vorschriften über die Behandlung der Bevölkerung in den
besetzten Gebieten erweitert. Die nationalsozialistische Propaganda
mäßigte ihren verächtlichen Ton gegenüber den >Untermenschen<. Im April
1943 erhielten die Offiziere der 2. Panzerarmee Anordnungen, über die
sie alle Militärangehörigen bis zur Kompanie in Kenntnis setzen sollten.
Nachdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß die >Haltung zum
russischen Volk< von entscheidender Bedeutung für den Kampf an der Front
ist, da von der Ruhe im Hinterland die Versorgung und Sicherheit der
kämpfenden Einheiten im rückwärtigen Gebiet abhängen, stellte der Stab
dieser Armee fest, daß
unnötige Grausamkeit und jegliche Willkür falsch, schädlich und
unwürdig sind ... Wir müssen unsere Überlegenheit durch unser
untadeliges Verhalten gegenüber der Bevölkerung unter Beweis stellen ...
Unkorrektes Verhalten, unnötige Beleidigungen, Grobheiten, Drohungen,
grobe Worte und Gewalt führen zu heimlichem Widerstand sowie zur
Hinwendung der Bevölkerung zur Bandenarmee.112
hi den Anordnungen wurde zielstrebiges Verhalten gefordert, damit die
Bevölkerung die Deutschen nicht länger als Okkupanten, sondern als
Befreier ansah. Ebenso erkannte man, daß es »sinnlos ist, Dörfer
anzuzünden, weil sie eine sichere Quelle für die Lebensmittelversorgung
unserer Armee darstellen«, und daß »Erschießungen von Geiseln oder
völlig unbeteiligten Personen zu unterlassen sind«113.
110 NP, dt. Bd. 7, S.587f.
111 NP, dt.Bd.7, S.588f.
112 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 253, Bl. 113. Rückübers.
aus dem Russischen.
113 EBD.J. 17, op. 125, d. 251, Bl. 60-61. Rückübers.
aus dem Russischen.
In den Berichtsunterlagen des Stabs derselben Armee (Mai 1944) gibt es
auch ein Merkblatt über die Behandlung der russischen Bevölkerung. »Die
früher ergriffenen Maßnahmen führten dazu, daß uns wohlgesonnene Leute
zu den Banden überliefen.«114
Folgende scharfsinnige Ermahnungen im Merkblatt enthüllten den meisten
Armisten völlig neue Erkenntnisse:
»Obszöne Worte und Gesten sind nicht nur für das Mädchen erniedrigend,
das ihr kennenzulernen versucht, sondern werden auch von ihrer Familie
als Beleidigung aufgefaßt« ... »Hänge nicht überall in deiner Wohnung
Abbildungen von nackten Frauen auf« ... »Wenn du es mit Russen zu tun
hast, greife nicht immer sofort zum Stock. Wenn du Widerstand spürst,
mußt du streng und nicht nachsichtig sein, aber du sollst nicht
schlagen« ... »Denke daran, wie du und deine Verwandten euch fühlen
würdet, wenn deiner Familie und dir erbarmungslos das Letzte weggenommen
würde« ... »Wenn ein Russe zu dir kommt, um dich um etwas zu bitten,
schreie nicht sofort »Hau ab!« Vielleicht denkst du dir nichts dabei.
Der Russe aber wird sagen, daß du ihn wie einen Hund behandelt... Mit
einem solchen Verhalten kannst du ihn zum Feind unserer Sache
machen.«115
Ein weiterer Befehl zielte darauf ab, den Armeeangehörigen Vertrauen
und Respekt vor der rassischen Bevölkerung zu vermitteln, damit sie
Russen nicht länger als >Menschen zweiter Klasses« ansehen, die keine
Ehre und Respekt verdienen.116 In dem Befehl wurde hervorgehoben, wer
gegen diese Prinzipien verstoße, mißachte »die Interessen Deutschlands
sträflich«117.
Der Kriegsausgang zeigte: Alle diese Befehle und Anordnungen >von
oben<, auch das realistischere Bild von Russen, kamen viel zu spät. Die
Zersetzung der Wehrmacht war inzwischen so weit fortgeschritten, daß
selbst Himmler dies zugeben mußte. In dem Fernschreiben, das er am 13.
Februar 1945 an die 542. Volksgrenadierdivision richtete, versuchte er
den Verbrechen der Wehrmachtsangehörigen an der eigenen Bevölkerung
Einhalt zu gebieten.
Aus allen Altersstufen der Bevölkerung treffen Klagen darüber ein, daß
deutsche Soldaten Häuser ausrauben, die von ihren Besitzern verlassen
wurden, und den Besitz und die Habseligkeiten der armen Leute sterilen
und zerstören. Alle Kommandeure aller Rangstufen sind dafür
verantwortlich, daß solche schändlichen Vorfälle weitestgehend
verhindert und Disziplin und Ordnung vollständig aufrechterhalten
werden. Jeder, der plündert, ist unverzüglich zu erschießen. Das
Schicksal der Menschen, die ihre Heimat verlassen mußten, ist grausam
und traurig. Uns alle bedrückt die Tatsache, daß Tausende von Dörfern in
die Hände von Russen gefallen sind, die sie ausrauben und zerstören. Es
versteht sich von selbst, daß es das Gesetz des Anstandes gebietet, daß
in den Dörfern,
114 EBD., D. 253, Bl. 113. Rückübers. aus dem Russischen.
115 EBD., Bl. 60-61. Rückübers. aus dem Russischen.
116 EBD., Bl. 54. Rückübers. aus dem Russischen.
117 EBD., D. 251, Bl. 55. Rückübers. aus dem Russischen.
Diese Vorschrift war folgendermaßen kommentiert: »Nicht ablesen!
Durchgehen und sprechen, ohne zu lesen! Den Vortrag nur als Vorlage
benutzen! So viele Beispiele wie möglich anführen.«
in denen sich deutsche Soldaten aufhalten, in den verlassenen Häusern
nicht der kleinste Gegenstand gestohlen oder zerstört wird. Dies ist
unsere Pflicht vor uns selbst und vor den deutschen Familien [.. .].118
Für einfache Soldaten und Offiziere war es äußerst schwierig, ihre
Haltung zum Geschehen zu äußern oder sogar ein Verbrechen zu verweigern.
Wer beispielsweise einen Tötungsbefehl nicht ausführte, wurde geächtet.
Nach Angaben des Soldaten der 12. Kompanie des 162. Regiments der 61.
Infanteriedivision Leopold Piza drohte demjenigen, der sowjetische Noten
oder Flugblätter über die Greueltaten der Wehrmacht las, ein
Strafverfahren.n9 Dennoch wird in den überlieferte* Briefen in
unterschiedlicher Form Stellung zu dem verbrecherischen Krieg bezogen.
Auch gefangengenommene Soldaten und Offiziere äußerten sich hierzu in
politischen Verhören, besonders solange der Ausgang des Krieges noch
ungewiß war.
Im November 1941 schreibt ein deutscher Soldat seiner Frau von der
sowjetischen Front:
Sehr selten habe ich geweint. [...] Erst wenn ich wieder bei Euch bin,
im Ausruhen und Überwinden, werden wir sehr viel weinen müssen, und Du
verstehst dann auch darin Deinen Mann.120
Die Kriegsgefangene Prischiwara erklärte:
Besser ein kleines Deutschland, in dem man arbeiten kann, als der
endlose Krieg für ein »Großes Deutschland«. Wenn Hitler nicht wäre, gäbe
es keinen Krieg, und ich wäre nicht Soldat.121
Nach Aussage von Genrich Mokowskij gab ein Unteroffizier namens Schwirz
Hitler an allem die Schuld; die letzten Worte, die er vor seinem Tod
sprach, lauteten: »Weshalb vergossen wir Blut für eine dunkle Sache?«122
Einige Wissenschaftler gehen davon aus, daß sich innerhalb der
Wehrmacht eine Untergrundorganisation formierte. Unter dem Futter des
Mantels eines deutschen Soldaten fanden Kämpfer der Roten Armee ein
Flugblatt mit dem Titel »Frontbrief Nr. 3« mit folgendem Aufruf:
118 Telegramm an die 2. Weißrussische Front, 21. Februar
1945, Nr. 1131. Rückübertragung der russischen Übersetzung des Befehls
des Oberbefehlshabers der Armeegruppe »Weichsel« Himmler. RGASPI, f. 17,
op. 125, d. 322, Bl. 28.
119 Vgl. den Überblick über politische Befragungen von
Kriegsgefangenen im Februar 1942, zusammengestellt vom Leiter der 7.
Abteilung der Politverwaltung der Volchover Front, Bataillonskommissar
Roscin. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 97.
120 REINHARD RÜRUP (Hrsg.): Der Krieg gegen die
Sowjetunion 1941-1945. Berlin 1991, S. 167.
121 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 8. Rückübers. aus
dem Russischen.
122 EBD., Bl. 39. Rückübers. aus dem Russischen. Vgl.
ebenso: d. 52, Bl. 59, 80-81; d. 82, Bl. 50; d. 97, Bl. 195-199; f. 17,
op. 25, d. 14063.
Kameraden, wer steckt hier an der Ostfront nicht bis zum Hals in der
Scheiße? [...] Hitler hat einen verbrecherischen Krieg entfesselt und
führt Deutschland in den Untergang.123
Die Wehrmachtsführung befürchtete, daß die Soldaten im Heimaturlaub die
deutsche Bevölkerung mit Schreckensgeschichten über die Ostfront
demoralisieren könnten. So werden sie in einem Merkblatt gewarnt:
Ihr steht unter Militärgesetz, und ihr seid immer noch bestraf bar.
Sprecht nicht über Waffen, Taktik oder Verluste. Sprecht nicht über
schlechte Versorgung und Ungerechtigkeit. Der Geheimdienst des Feindes
ist bereit, dies auszunutzen.124
Ein Soldat, wahrscheinlicher eine Gruppe schuf eine eigene Version von
Anordnungen unter dem Titel »Nachrichten für Urlauber«. Hierin heißt es:
Ihr müßt daran denken, daß ihr ein nationalsozialistisches Land
betretet, dessen Lebensunistände sich sehr stark von denen
unterscheiden, an die ihr euch gewöhnt habt. Ihr müßt taktvoll mit den
Einheimischen umgehen, euch ihren Sitten anpassen und von den
Gewohnheiten ablassen, in die ihr euch so sehr verliebt habt.
Verpflegung: Reißt weder das Parkett noch sonstige Arten von Böden auf,
denn Kartoffeln werden anderswo aufbewahrt.
Sperrstunde: Solltet ihr euren Schlüssel vergessen haben, so versucht
die Tür mit einem rundgeformten Gegenstand zu öffnen. Nur in extremen
Notfällen benutzt eine Handgranate.
Schutz vor Partisanen: Es ist nicht notwendig, Zivilisten nach dem
Kennwort zu fragen und auf eine unbefriedigende Antwort hin das Feuer zu
eröffnen.
Schutz vor Tieren: Hunde, an denen Sprengminen befestigt sind, haben in
der Sowjetunion eine besondere Bedeutung. Deutsche Hunde dagegen beißen
im schlimmsten Fall, aber sie explodieren nicht. Das Erschießen eines
jeden Hundes, den ihr seht, mag zwar in der Sowjetunion zu empfehlen
sein, ruft aber hier einen schlechten Eindruck hervor.
Haltung zur Zivilbevölkerung: Wenn in Deutschland jemand Frauenkleidung
trägt, dann heißt dies nicht notwendigerweise, daß es sich hier um einen
Partisanen handelt. Dennoch sind solche Wesen für jeden gefährlich, der
sich auf Fronturlaub befindet.
Allgemeines: Wenn ihr auf Urlaub in der Heimat seid, dann wagt es nur
nicht, über das paradiesische Dasein in der Sowjetunion zu sprechen,
denn sonst würde jedermann hierherkommen wollen und unser gemütliches
Idyll zerstören.125
Offensichtlich kursierte diese »Anordnung« in der Armee. Im gleichen
ironischen Stil verfaßt ist der von mir entdeckte Brief, den ein
Leutnant namens Friedrich aus dem 697. Infanterieregiment der 312.
Infanteriedivision Ende März 1942 an seine Eltern schrieb. Nicht für das
Gericht, nicht beim Verhör, sondern in einem
123 ANTONY BEEVOR: Stalingrad. London 1998; zitiert nach
der deutschen Ausgabe Stalingrad. München 1999, S. 69.
124 EBD., S. 67f.
125 EBD., S. 68.
>grotesken< Brief an seine Familie verfaßte der offensichtlich
intelligente junge Mann ein schonungsloses Pamphlet gegen sich und seine
Regimentskameraden. Dieses Dokument verdient vollständig wiedergegeben
zu werden.
Meine Lieben.
Ich kann Euch die freudige Nachricht mitteilen, daß ich hoffe, bald
Urlaub zu bekommen. Die Nachricht wird euch freuen, denn ihr ahnt nicht,
was auf Euch zukommt, und ist zugleich erfreulich für mich. Damit der
Urlaub harmonisch verläuft, bitte ich Euch schon jetzt, Folgendes zu
beachten:
1. Es empfiehlt sich, vor Ankunft meines Zuges alle Wertsachen im
Garten zu vergraben.
2. Alle Kinder unter 5 Jahren - auch aus den Nachbarhäusern - sollten
nach Möglichkeit in die nächsten Kindergärten des
nationalsozialistischen Vereins gebracht werden.
3. Damit ich nicht gleich das Haus anzünde, hißt eine weiße Fahne auf
einem Besenstiel.
4. Wenn ich Euch am Bahnhof abtaste, glaubt nicht, daß ich euch
liebkose, ich suche nach Waffen.
5. Onkel Peter sollte lieber nicht zum Bahnhof kommen, da er sich im
Alter zwischen 14 und 70 Jahren befindet. Am besten meldet er sich mit
einer Decke, einer Essensschüssel und einem Lebensmittelvorrat für 3
Tage beim nächsten Konzentrationslager.
6. Onkel Wilhelm, der schon 70 Jahre alt ist, hat sich bis zu meiner
Abreise als Geisel zur Verfügung zu stellen.
7. Das elektrische Licht ist während meines Urlaubs auszuschalten,
dafür sind schon jetzt Kerzen bei den Nachbarn zu entleihen.
8. Hebt alte Zeitungen auf, da ich sie gut gebrauchen kann. Glänzende
Illustrierte lassen sich als Tischdecke oder zum Einwickeln von Speck
benutzen.
9. Lagert alle Möbel bis auf den letzten Tisch und Stuhl
auseinandergenommen im Flur, da sie als Brennholz verwendet werden.
Bitte laßt nur das Bücherbord stehen, damit es etwas gibt, was ich
kaputtmachen kann und ich nicht um diesen Spaß gebracht werde.
10. Über diesen Punkt bitte ich strengste Verschwiegenheit zu bewahren:
Es geht um meine Verpflegung auf Kosten der Bevölkerung: Stellt schon
jetzt fest, wo es in der Nähe Hühner, Gänse und Schweine gibt; um den
Preis braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Ich werde alles mit Hilfe
meiner Pistole bezahlen.
11. Versetzt den Wein mit Brennspiritus, dann schmeckt er besser.
Verbarrikadiert den Weinkeller ordentlich. Das Aufbrechen ist zu meiner
Lieblingsbeschäftigung geworden. Das Wiederholen macht es nur
angenehmer.
12. Bitte wendet euch an den Soldatenverein und gebt an, daß eines
seiner Mitglieder vom Dach des Nachbarhauses auf eure Fenster geschossen
hat. Um die Scheiben braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich werde
sie sowieso herausschlagen.
13. Die Waschfrau könnt ihr entlassen, da ich erst vor vier Wochen
saubere Wäsche angezogen habe.
14. Die Wasserleitung kann bleiben, aber ich persönlich werde mich aus
dem Abflußrohr waschen. Hütet euch davor, mein Zahnputzglas zu
zerschlagen, ich brauche es zum Wodkatrinken.
15. Wir drei, Mama, Tante Frieda und ich, bilden ein Feldgericht und
verurteilen unseren Hauswirt und außerdem alle Nachbarn, die uns ärgern,
zum Tod durch Erschießen.
Am besten heben sie sich bis dahin schon ein Grab aus, damit ich meinen
Urlaub nicht für solche unwesentlichen Dinge verschwende.
16. Wundert euch nicht, wenn ich unentschlossen vor dem Haus stehen
bleibe. Grund dafür ist lediglich meine Angst vor der Dunkelheit.
17. Jetzt kommt ein heikler Punkt, über den ich ungern rede: Zwei Tage
vor Ablauf meines Urlaubs solltet Ihr lieber zu den Großeltern fahren,
weil ich aus Gewohnheit vor der Abreise das Haus in Brand stecken werde.
18. Wollt ihr mir eine große Freude machen, hängt über die Haustür ein
Schild mit der Aufschrift »Grüß Gott! Komm herein, schließ die Tür!«
Abgesehen von diesen Wünschen braucht ihr euch um nichts zu kümmern, ich
bin genügsam. Ich hoffe, daß es Euch bis zu meiner Ankunft gut geht,
Gruß von Eurem Friedrich.126
Bei diesen »Androhungen« blieb es. Friedrichs Eltern erhielten den
Brief nicht, da der Leutnant am 1. April im Kampf getötet wurde; das
Dokument fiel dabei dem Nachrichtendienst der Roten Armee in die Hände.
Die deutsche Führung ordnete es der Kategorie >Kritizismus und
Besserwisserei zu. Daß auch andere Soldaten diese Stimmungen teilten,
zeigt eine Sitzung des OKW vom 2. Februar 1944, in dessen Beschlüssen es
u.a. heißt:
3. Kampf gegen schädliche Einflüsse: a) Propaganda des Gegners; b)
defätistische Stimmungen [...]; c) niedergeschlagene Stimmung [...]. 4.
Ausmerzung des zersetzenden Kritizismus, der Besserwisserei und des
Pessimismus [...]. Damit ist nicht zufälliges, spontanes Schimpfen (!)
gemeint, welches die Disziplin nicht untergräbt und bekannte
Persönlichkeiten nicht blamiert [.. .].127
Auch in der Roten Armee gab es viele Menschen, die die Verbrechen gegen
»die Deutschen« als Schande empfanden. Zumindest liegt kein Grund vor,
den zahlreichen Beschlüssen der Armeeführung, mit denen diese den
Verbrechen Einhalt zu gebieten versuchte, nicht Glauben zu schenken. Lew
Kopelew stellt dar, auf welche Resonanz der Ukas des Befehlshabers der
2. Weißrussischen Front, Marschall Rokossowskij in der Armee stieß:
standrechtliches Erschießen für Plündern, Vergewaltigung, Raub, Mord von
Zivilpersonen.128
Wie Kopelew berichtet, verfuhr genau so der Divisionskommandeur Oberst
Smirnow, als dieser in Allenstein eigenhändig einen Leutnant erschoß,
der seine
126 RGASPI, f. 17, op. 125, d. 97, Bl. 103-105. Der Brief
wurde bei einem am 1. April 1942 im Bezirk Bolschije Trisely getöteten
Leutnant gefunden, ins Russische übersetzt und vom Leiter der 1.
Abteilung der 2. Hauptverwaltung für Aufklärung des Generalstabs der
RKKA an das ZK VKP (b), Genosse Aleksandrov, weitergeleitet. Erstmals
veröffentlicht in der Sonderausgabe der Zeitschrift »Rodina« (wie Anm.
99), S. 45, sowie in Auszügen in GORZKA/STANG: Der Vernichtungskrieg im
Osten (wie Anm. 11), S.67f.
127 Aus den Dokumenten des Hauptkommandos der deutschen
Streitkräfte für das Jahr 1943/44, wurde von der militärhistorischen
Verwaltung des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR an das
Parteiarchiv weitergeleitet. RGASPI, f. 71, op. 125, d. 13539, Bl. 10.
Rückübers. aus dem Russischen.
128 KOPELEV: Chranit' vecno (wie Anm. 4), russ. S.
127ff.; dt. S. 135.
Männer vor einer deutschen Frau antreten ließ, die ausgestreckt am Boden
lag.129 Auch in der Meldung des Leiters der Politischen Abteilung der 8.
Gardearmee Generalmajor Skosyrew an den Leiter der Politischen
Verwaltung der 1. Weißrussischen Front vom 25. April 1945 geht es um die
Haltung der sowjetischen Armeeangehörigen zur deutschen Bevölkerung:
Die Militärkommandeure geben an, daß die Zahl der Plünderungen,
Vergewaltigungen und anderer unmoralischer Handlungen von Seiten der
Armeeangehörigkeiten in den letzten Tagen stark zurückgegangen ist. Pro
Ortschaft werden 2-3 Vorfälle verzeichnet, während derartige
Vorkommnisse früher sehr viel häufiger vorkamen.130 •
Der Militärstaatsanwalt der 1. Weißrussischen Front und Generalmajor
der Justiz L. Jatschenin erstattete dem Militärrat der Front Bericht
darüber, inwieweit die Direktive vom 2. Mai 1945 zur Änderung der
Haltung gegenüber der deutschen Bevölkerung befolgt wird:
In der Haltung unserer Armeeangehörigen zur deutschen Bevölkerung ist
auf jeden Fall ein bedeutender Umbruch erreicht worden. Die Zahl
ungezielter und (grundloser) Erschießungen von Deutschen, von
Plünderungen und Vergewaltigungen deutscher Frauen ist erheblich
zurückgegangen, dennoch wurden auch nach Erlaß der Direktiven [...] noch
einige weitere Vorfälle verzeichnet. Während es Erschießungen von
Deutschen inzwischen praktisch nicht mehr gibt und Fälle von Raub nur
noch vereinzelt auftreten, kommt es weiterhin zu Vergewaltigungen von
Frauen sowie zu Plünderungen, wenn unsere Armeeangehörigen durch
verlassene Wohnungen streifen und alle möglichen Sachen und Gegenstände
mitnehmen.131
Von Januar bis März 1945 verurteilte die Militäroberstaatsanwaltschaft
der UdSSR insgesamt 4148 Offiziere, davon 1089 wegen Amtsvergehen, 548
wegen Raub und Eigentumsvergehen, 114 wegen Roheitsdelikten und
Diskreditierung des Ranges sowie 1141 wegen weiterer Vergehen (nicht
aufgeführt sind hier »konterrevolutionäre« Akte, Verkehrsdelikte,
Ordnungsverstöße und Wehrdienstverweigerung).132 So wurden die oben
erwähnten Majore Sljuntjajew und Mubarakow, die im Februar 1945 eine
Lettin vergewaltigt und dann ermordet und zur Verwischung ihrer Spuren
einen französischen Kriegsgefangenen umgebracht hatten, am 12. März zu
zehn Jahren verurteilt; zu Soldaten degradiert, versetzte man sie in ein
Strafbataillon.133 Zweifellos hätte man die Situation früher und
wirkungsvoller unter Kontrolle bringen können. Aufschlußreiche Fakten
über »Beutefieber« vermittelt das Verhör des 1946 verhafteten
Generalmajors A. Sidnjew, des ehemaligen Chefs des opera-
129 EBD., russ. S. 126; dt. S. 134.
130 O. A. RZESEVSKIJ: Berlinskaja opemäja 1945 g.
Diskussija prvdolzaetsja (Berliner Operation 1945. Die Diskussion wird
fortgesetzt). In: Mir istorii (Rossijskij elektronnyj zumal) 2002, Nr.
4.
131 EBD.
132 CA MO, f. 67, op. 12018, d. 89, Bl. 215; auch in
KNYSEVSKIJ: Dobyca (wie Anm. 12), S. 120.
133 Bericht des Bevollmächtigten des SNK der UdSSR für
die Repatriierung sowjetischer Bürger, Generaloberst F. Golikov an G. M.
Malenkov vom 3. April 1945. RGASPI, f. 17, op. 125, d. 314, Bl. 27-28.
tiven Sektors des NKWD-MWD, in Berlin durch Oberstleutnant Putinzew, den
Untersuchungsführer des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR für
besonders wichtige Angelegenheiten.
Frage: Nach Ihrer Abreise aus Berlin wurden großangelegte Diebstähle
von Wertgegenständen und Gold aufgedeckt, an denen Sie beteiligt waren.
Äußern Sie sich dazu.
Antwort: Ehrlich gesagt habe ich schon lange voller Sorge darauf
gewartet, daß meine in Deutschland verübten Verbrechen aufgedeckt werden
und ich dafür zur Verantwortung gezogen werde. Bekanntlich haben die
Truppenteile der Roten Armee bei der Einnahme Berlins große Trophäen
erbeutet. In verschiedenen Stadtteilen wurden zuweilen Lager mit
Goldgegenständen, Silber, Brillanten und anderen Wertgegenständen
entdeckt. Gleichzeitig wurden einige riesige Lager mit kostbaren Fellen,
Pelzen, verschiedenen Stoffen, Dessous und vielem anderen Besitz
gefunden [...]. Ich muß offen sagen, daß ich zu den wenigen leitenden
Mitarbeitern gehörte, die die Möglichkeit gehabt hätten, dafür zu
sorgen, daß alle von den sowjetischen Truppen auf deutschem Gebiet
erbeuteten Gegenstände bewacht und registriert werden. Allerdings
ergriff ich keinerlei Maßnahmen, um die Plünderungen zu unterbinden, und
bekenne mich dafür schuldig.
Frage: Haben Sie sich auch selber an Plünderungen beteiligt?
Antwort: Ich gebe das zu.134
Nach der Kapitulation Deutschlands entspannte sich die Situation
allmählich. Generalleutnant Galadshew, Leiter der Politverwaltung der 1.
Weißrussischen Front, meldete nach Moskau, daß sich die meisten Soldaten
und Offiziere zurückhaltend benähmen und sich nicht mehr zu Taten
hinreißen ließen, die »zu Beginn der Besetzung Deutschlands durch die
Fronteinheiten häufig zu registrieren waren«. Allerdings sah Galadshew
dies als Verdienst Stalins und der richtigen Ideologie der Roten Armee
an:
Unter den Soldaten hört man oft folgende Ermahnungen: »Genosse Stalin
hat befohlen, unsere Haltung gegenüber der deutschen Bevölkerung zu
ändern, so darfst auch du keinen Unfug treiben.« Eine solche
kameradschaftliche Ermahnung wirkt sich selbst bei Menschen positiv aus,
die sich sonst durch Undiszipliniertheit auszeichneten. Die Kraft der
Autorität der Weisungen des Genossen Stalin zur Änderung der Haltung
gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung ist so groß, daß selbst die
Menschen, die durch die Deutschen alles verloren haben - Haus, Eltern,
Frau und Kinder - keine Racheakte mehr verüben, die vor der Direktive
des Hauptquartiers zu verzeichnen waren. Die Änderung der Haltung
gegenüber den Deutschen wird von der Mehrheit der Militärangehörigen als
weise und vorausschauende Politik unserer Regierung bewertet, die nicht
das Ziel verfolgt, das deutsche Volk auszurotten. Die Menschen
begreifen, daß die Ideologie der Roten Armee, die von der Partei Lenins
und Stalins geschaffen und erzogen wurde, so ist, daß die Kämpfer der
Roten Armee die Zivilbevölkerung nicht drangsalieren dürfen. Sie
begreifen,
134 Voennye archivy Rossii. Sbornik dokumentov
(MiJitärarchive Rußlands. Dokumentenband). Moskau 1993, S. 197f.
daß die Politik gegenüber den Deutschen gegenwärtig notwendig und
nutzbringend für uns ist, daß sie die Autorität und die Positionen
unseres Landes festigt.135
Gleichzeitig mußte Galadshew zugeben, daß ein »absoluter« Umbruch in
der Haltung der Armeeangehörigen gegenüber der deutschen Bevölkerung
noch nicht erreicht war. In den Truppeneinheiten gebe es Menschen, die
sich nicht mit der veränderten Position gegenüber »den Deutschen«
abfinden können. Er begründet dies damit, daß deren Familien
unter den Deutschen und ihren Grausamkeiten gelitten haben, so daß sie
glauben, persönliche Rechnungen begleichen zu müssen. Für diese Gruppe
der Militäranyhörigen sind Stimmungen wie die folgenden typisch:
Die Deutschen haben mein Haus niedergebrannt und meine ganze Familie
umgebracht. Ich habe nichts mehr. Der Krieg ist aus, und ich weiß nicht
wohin, wo ich einen vertrauten Ort suchen soll. Ich würde jeden
Deutschen töten. Es ist eine Schande, man soll ihnen kein Brot geben.
Sollen sie doch alle sterben. Sie haben es verdient.136
Die Frage der Rache spaltete das Offizierskorps. So brachen
beispielsweise zwischen Beutehungrigen und jungen Leutnants immer wieder
Konflikte aus. Kopelew berichtet über den Streit eines
Pionier-Kompanieführers in Neidenburg mit dem Hauptmann eines
Beutekommandos:
Wir sind eine sozialistische Armee. Wir sind Internationalisten. Wie
darf man von Rache an den Deutschen sprechen? Das ist nicht unsere
Ideologie - sich an einem Volk zu rächen. Was sagte Genosse Stalin? »Die
Hitler kommen und gehen ...« Kommen Sie mir nicht mit Ehrenburg, der ist
kein Marxist. Ich habe von klein auf gelernt: Alle Werktätigen aller
Länder sind Brüder. Marx und Engels waren auch Deutsche, auch
Liebknecht, auch Thälmann, und es gibt auch heute deutsche Kommunisten
und Arbeiter und Bauern und ganz einfache, anständige Menschen. Es ist
ja unmöglich, daß ein ganzes Volk aus Faschisten besteht. So was können
nur die Faschisten selber behaupten ...137
Kopelew stand auf der Seite des jungen Kompanieführers; er selbst sah
sich immer wieder gezwungen, Verbrechen Einhalt zu gebieten und gegen
die »Racheideologie« anzukämpfen. Allerdings wurde er im April 1945 aus
der Partei ausgeschlossen, weil er angeblich »bürgerlichen Humanismus
und Mideid mit dem Feind« propagiert hatte, und anschließend nach
Artikel 58 des Strafgesetzbuches wegen »antisowjetischer Agitation und
Propaganda« verhaftet wurde. Unverhohlene Sorge und Scham um das Ansehen
der Roten Armee hatte einen seiner Kollegen zu folgender Meldung an den
Vorgesetzten veranlaßt:
135 Bericht des Leiters der Politverwaltung der 1. Weißrussischen Front
Generalleutnant Galadzev an den stellvertretenden Leiter der Politischen
Hauptverwaltung der RKKA Generalleutnant Sikin vom 31. Mai 1945 Ȇber
die Haltung der Armeeangehörigen gegenüber der deutschen Bevölkerung«.
Deutsch in RÜRUP (Hrsg.): Der Krieg gegen die Sowjetunion (wie Anm. 60),
S. 258ff.
136 EBD.
137 KOPELEV: Cbranit' vecno (wie Anm. 4), russ. S. 98;
dt. S. 105.
[Kopelew] weinte vor Mitleid mit den Deutschen, sagte, Genosse Stalin
sei über die Lage nicht informiert, sei zu beschäftigt mit
internationalen Angelegenheiten. Er nannte unsere Armee eine
Machno-Bande und beschimpfte in nicht wiederzugebenden Ausdrücken die
militärische und die politische Führung und den Genossen Ehrenburg.138
So widersprüchlich und tragisch war das Schicksal der verschiedenen
Vertreter des Offizierskorps der Roten Armee. Der Prozeß gegen
Generalmajor Sidnjew (ebenso wie die Achtung Georgij Shukows nach dem
Krieg, die Verurteilung von Generalleutnant K. Telegin, die
Anschuldigungen gegen Iwan Serow sind bezeichnend für das Los derjenigen
»hochkarätigen Marodeure«, die zur Verantwortung gezogen wurden, weil
Stalin, der über diese Neigungen seines Umfelds informiert war, sich die
deutschen >Episoden< für seine politischen Intrigen der Nachkriegszeit
zunutze machte. Pawel Knyschewskij vertritt die Auffassung, daß es im
geheimen Staats-kartenspiel der >Aneignung von Beutegut< zahlreiche
»unwiderstehliche Trümpfe« gab.139 Kopelew wurde einerseits zum Opfer
der Doppelmoral, andererseits setzte sein Fall ein Signal, das Thema
Verbrechen in Deutschland abzuschließen.
(Aus dem Russischen von Beate Jasper-Volovnikov)
138 EBD., russ. S. 129; dt. S. 138.
139 KNYSEVSKIJ: Dobyca (wie Anm. 12), S. 129.